Lieber wienern statt büffeln

Immer mehr Examenskandidaten scheitern schon bei der Vorbereitung zur Prüfung. Sie leiden unter einem zwanghaften Aufschiebeverhalten

Anne hat plötzlich die Putzwut gepackt. Sie wischt die Fenster, schwingt den Staubsauger, fegt den Keller – und das, obwohl sie eigentlich kein besonders reinlicher Mensch ist. Doch in vier Wochen hat sie Examen, und vor diesem Hintergrund gewann der Putzteufel an Attraktivität. Zumindest wirkt er auf Anne nun attraktiver als das, was sie eigentlich machen müsste, nämlich lernen und sich auf die Prüfung vorbereiten. Annes Problem: Sie leidet unter Aufschiebeverhalten, oder, wie Wissenschaftler es nennen, Procrastination. Doch die Studentin ist mit ihrem Problem nicht allein, das zwanghafte Aufschieben scheint ein Massenphänomen zu werden.

So schätzt der amerikanische Psychologe William Knaus, dass etwa 90 Prozent aller College-Studenten immer wieder mal wichtige Pflichten aussitzen. „Bei einem Viertel von ihnen wird das Verhalten chronisch“, so Kraus, „und das sind dann meistens auch diejenigen, die ihr Studium abbrechen.“

In Deutschland sieht die Situation ähnlich aus. Die Psychologinnen Inga Opitz und Julia Patzelt boten den Studenten der Universität Münster via Internet einen Fragebogen zur Procrastination an. Der Rücklauf war enorm, die Forscherinnen erhielten fast 1.000 beantwortete Bögen zurück.

Deren Auswertung ergab: Die meisten Aufschieber unter den Studenten kommen aus den Geisteswissenschaften. Vermutlich deshalb, weil das Studium hier eher unstrukturiert abläuft und eine Menge Eigeninitiative voraussetzt. Männer leiden zudem öfter unter Procrastination als Frauen, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass sie verpatzte Prüfungen und Referate mehr als persönliches Versagen und deshalb mehr Angst vor solchen Terminen empfinden.

Opitz und Patzelt fanden auch heraus, dass sich unter den Aufschiebern mehr Depressive finden als anderswo. Ob die Betroffenen jedoch aufschieben, weil sie depressiv sind, oder aber depressiv sind, weil sie so viel aufschieben, können die beiden Forscherinnen nicht beantworten.

Ebenso offen ist, ab welchem Grad die Procrastination ein Fall für den Psychotherapeuten wird. Zumindest aber entwickelten die Psychologinnen Julia Beißner und Nicole Samberg, ebenfalls von der Uni Münster, ein Trainingsprogramm, um die gängigen Formen des Aufschiebens zu bekämpfen. Schritt eins: sich der äußeren Störfaktoren bewusst werden und sie beseitigen. Das heißt, Telefon rausziehen, Handy aus, die TV- Fernbedienung außer Reichweite bringen. Schritt zwei: sich einen festen Punkt setzen, an dem man die tägliche Arbeit beginnt, beispielsweise indem man einen Wecker klingeln lässt. Schritt drei: realistisch sein. Denn noch drei Tage Zeit zu haben bedeutet ja nicht, 72 Stunden lernen zu können.

Knaus empfiehlt außerdem, das Lernen und Arbeiten in kleinere Blöcke aufzuteilen: „Man erreicht mehr, wenn man seine Lern- und Arbeitsaktionen in Ein-Stunden-Blöcke mit zehnminütigen Pausen aufteilt, anstatt drei Stunden ohne Pause durchzupowern.“

Wichtig ist aber auch, dass man wegen des eigenen Aufschiebeverhaltens nicht verzweifelt. Denn es muss nicht zwangsläufig in der Katastrophe, beispielsweise dem Abbruch des Studiums, enden. Jeder Verlagslektor kennt unzählige Autoren, die kurz vor dem Abgabetermin ihres Buchs zu arbeiten beginnen und unter diesem Zeitdruck zur Höchstform auflaufen. Oft hat man dann den Eindruck, sie hätten das Zaudern und Aufschieben gebraucht. „Procrastination kann auch eine Technik sein, wichtige Gedanken in sich reifen zu lassen und abzuwägen, was wirklich wichtig ist“, erklärt Philosophieprofessor John Perry von der kalifornischen Stanford-Universität.

In solchen Fällen kann dann sogar mehr bei rauskommen, als wenn die Betroffenen ihre Arbeit diszipliniert und Stück für Stück angegangen wären. Voraussetzung ist freilich, dass am Ende noch genug Zeit bleibt. Denn selbst ein Genie vermag eine 200-seitige Doktorarbeit nicht in zwei Wochen fertig zu stellen.

JÖRG ZITTLAU