Ratten im Brennnesselsud

Die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete erzählt die Geschichte ihrer Familie, die von den Russen nach Sibirien deportiert wurde. Ihr Schicksal ist exemplarisch für die Tragödie Lettlands während der Sowjetzeit

VON ANITA KUGLER

Die Erinnerungen an fünfzig Jahre getrenntes Europa könnten unterschiedlicher nicht sein. Im Westen wird das totalitäre Unrecht der Stalinzeit mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit der Judenvernichtung banalisiert, im Osten der Schuldanteil der Balten verharmlost, weil die sowjetischen Repressionen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Für diese verschiedenen Wahrnehmungen der jüngsten Vergangenheit typisch war der Eklat im letzten Jahr auf der Leipziger Buchmesse. Salomon Korn vom Zentralrat der Juden verließ damals unter Protest den Festakt, als die lettische Außenministerin Sandra Kalniete in ihrer Ansprache ohne Hinweis auf den lettischen Anteil am Judenmord nur die eigene Nation als Opfer „völkermörderischer“ Willkürherrschaft darstellte sowie den „Nazismus und Kommunismus gleichermaßen kriminell“ nannte. Noch weit und steinig ist der Weg zu einer gemeinsamen Gedenkkultur, in der sowohl die Erfahrung des Gulags als auch die Erinnerung an den Holocaust in das kollektive europäische Gedächtnis eingegliedert sind.

Ein Beitrag auf diesem Weg ist Sandra Kalnietes Buch „Mit Ballschuhen in den sibirischen Schnee“. Es ist kein literarisches Meisterwerk, aber sehr gut geeignet, unsere große Unwissenheit über das Schicksal der Balten, hier der Letten, während der Sowjetzeit zu mindern. Kalniete hat auf der Grundlage von persönlichen Erinnerungen und sorgfältigen Archivstudien die Geschichte ihrer Großeltern, ihrer Eltern, aber auch ihre eigene aufgeschrieben, denn sie wurde 1952 als „Verbannte“ im Gebiet Tomsk geboren.

Die Geschichte ihrer Familie ist außergewöhnlich tragisch, kein Unglück scheint ausgelassen zu sein. Sie ist aber auch exemplarisch, weil es in Lettland genau wie in Litauen und Estland wohl kaum eine Familie gibt, die nicht in irgendeiner Weise von den stalinistischen Repressionen betroffen war. Wer Sandra Kalnietes Buch gelesen und auch die Anmerkungen nicht überschlagen hat, versteht, warum das Kriegsende am 8. Mai 1945 für die Mehrheit des lettischen Volkes keine Befreiung bedeutet, sondern die Ablösung einer mörderischen Zwangsherrschaft durch eine andere.

Die tragische, aber grausam normale Geschichte der Familien Kalniete väterlicherseits und Dreifelde mütterlicherseits lässt die Autorin im August 1939 beginnen. Seinerzeit wurden in dem Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt die baltischen Staaten der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Schon zwei Monate danach unterzeichnete der stellvertretende Volkskommissar für Staatssicherheit der UdSSR, Iwan Serow, den Befehl des russischen Geheimdienstes NKWD „Über die Prozedur der Deportation antisowjetischer Elemente in Litauen, Lettland und Estland“. Anderthalb Jahre bevor die Güterzüge dann wirklich nach Sibirien rollten, war in diesem Befehl Nr. 00123 alles genau festgelegt: die Trennung der Männer von ihren Familien, Sammelpunkte, Deportationsziele. Ausprobiert hatte der NKWD den technischen Ablauf gerade in Ostpolen.

Bei den Dreifeldes klopfte der Geheimdienst am 14. Juni 1941 an die Tür. Ligita, später Sandra Kalnietes Mutter, damals knapp 15 Jahre alt, hatte nur Zeit, ihre Schuhe in die Hand zu nehmen. Es waren jene Ballschuhe, die dem Buch den Titel gaben. 34.250 angeblich „antisowjetische Elemente“ darunter etwa 5.000 Juden, wurden, Tage bevor die Wehrmacht einmarschierte, in die Güterzüge gen Osten gepresst. Die Männer kamen zumeist in die Zwangsarbeitslager des Gulag. Sandra Kalnietes Großvater Janis starb dort schon nach einigen Monaten an Entkräftung.

Erst 50 Jahre später, nach der Öffnung der KGB-Archive, erfuhr die Restfamilie Todesdatum und Todesort. Die Großmutter Emilija und ihre Tochter Ligita wurden nach Zwischenaufenthalten in Lagern, die als Todeslager berühmt geworden sind, nach Petropawlowka im Gebiet Tomsk geschickt. Dort wurden sie als so genannte Sondersiedler ihrem Schicksal überlassen, ohne Winterkleidung, ohne ein Dach über dem Kopf; sie lernten, Ratten in Brennnesselsud zu kochen. Glücklich dran waren die, die in einer Kolchose Arbeit fanden. Die Großmutter Emilija wollte bald niemand mehr haben, sie wurde zu schwach. Sie starb im Juni 1950. Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihre Tochter Ligita bereits zum zweiten Mal auf dem Weg in die Verbannung. Im April 1948 hatte die sowjetische Administration erlaubt, dass die 1941 als Kinder und Jugendliche Deportierten in die Heimat zurückkehren durften.

Für die meisten dieser Rückkehrer dauerte die Freiheit nur 16 Monate. Denn in allen baltischen Staaten liefen schon die geheimen Vorbereitungen des KGB für die zweite große Deportation, viel größer noch als die vorangegangene. Deren Tarnname lautete „Operation Brandungswelle“. Laut Ministerratsbeschluss der UdSSR sollten alle „Kulaken […], Banditen […], Nationalisten […], früheren Banditen […]“ ihre Familien sowie alle „Familienangehörigen von Personen, die Banditen unterstützen“, verbannt werden, und zwar „auf ewige Zeit“.

Zwischen dem 25. und 29. März 1949 wurden in 33 Zügen rund 43.000 Menschen aus Lettland in den Gulag oder in die unwirklichen Sonderansiedlungszonen Sibiriens deportiert; aus dem gesamten Baltikum waren es rund 95.000 Menschen. Genau 69.071 von ihnen, das sind 72,9 Prozent, waren Frauen und Kinder. Mehr als 15.000 der Deportierten überlebten die Verschickung nicht.

In einem der Züge befanden sich auch Sandra Kalnietes späterer Vater, Aivars Kalniete, damals 17 Jahre alt, und seine Mutter Milda. Sie galt als Angehörige eines „Banditen“, weil ihr geschiedener Mann im März 1944 in die „Lettischen Freiwilligen-Legion“ einberufen worden war, eine der Waffen-SS unterstellte Organisation. Als noch schwerwiegender galt, dass er nach der Eroberung Rigas durch die Rote Armee für ein paar Wochen als antisowjetischer Partisan flüchtete. Damit war das Schicksal seiner Familie besiegelt.

Sandra Kalnietes Großvater wurde nach einem Schauprozess in ein Zwangsarbeitslager in Komi geschickt und starb dort 1953. Seine „Banditenfamilie“ landete nach einer Odyssee in der Sondersiedlung Togur, Gebiet Tomsk. Dort lernten sich die Eltern der Autorin kennen. Erst im Mai 1957 kehrten sie nach Lettland zurück. Ihre Mutter nach 16 Jahren Verbannung, psychisch gezeichnet für ihr Leben, und immer hungrig.

Noch weiß niemand, welche psychischen Folgen 50 Jahre Annektion, Okkupation, Deportation, Repression für die Kinder der Deportierten und die politische Kultur des Landes haben; ganz zu schweigen von der sowjetischen Strategie, die Letten in ihrem eigenen Land zur Minderheit zu machen. Eine Debatte, vergleichbar der deutschen über die Kriegskinder, scheint bislang nicht möglich. Die Letten sind noch viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt.

Die Zwangsverschickungen aus Lettland sind im Megasystem Gulag nur eine Tragödie unter vielen. Doch es ist das unbestreitbare Verdienst Kalnietes, am Beispiel des Kleinen das Große so anschaulich zu beschreiben, dass es im Gedächtnis bleibt.

Sandra Kalniete: „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“. Aus dem Lettischen von Matthias Knoll. Herbig Verlag, München 2005, 352 Seiten, 22,90 Euro