Vor der Entdeckung schon ausgestorben

Die UNO hat das weltweite Ökosystem untersucht und kommt zu dem Schluss: Noch nie sind so viele Arten so schnell verschwunden wie heute

VON NICK REIMER

Dem Eisbär droht der Hungertod. In den letzten 100 Jahren stieg in Folge des Klimawandels die durchschnittliche Lufttemperatur im Nordmeer um 5 Grad Celsius. Das Packeis schmilzt im Frühling eher und friert im Herbst später zu. Das beschert den Eisbären immer öfter ein Loch im Bauch: Ihre Hauptbeute sind Ringelrobben. Eisbären lauern ihnen an den Luftlöchern auf. Ohne Eis gibt es aber keine Luftlöcher. Und im offenen Wasser kann der Eisbär die flinken Robben nicht erbeuten.

So schnell wie nie verschwinden derzeit weltweit Arten. So seien seit Beginn des industriellen Fischfangs etwa 90 Prozent des Bestands verschwunden, heißt es in dem gestern in Nairobi veröffentlichten Millennium Ecosystem Assessment – einer der größten bislang angestellten Untersuchungen des weltweiten Ökosystems, erstellt im Auftrag des UN-Umweltprogramms (Unep). „Wären Wälder oder Korallenriffe vergleichbar mit Museen und Universitäten, dann würde deren Zerstörung als grober Vandalismus gelten“, erklärte in Nairobi Klaus Töpfer, Direktor des Umweltprogramms. „Der Verlust von Artenvielfalt ist wirtschaftlicher Selbstmord.“

Das ist auch das Fazit des Berichtes: Die Menschheit beraube sich notwendiger Leistungen der Natur, beispielsweise der natürlichen Reinigung von Luft und Wasser und des Schutzes vor Naturkatastrophen. Die Autoren – beteiligt sind neben der Weltbank diverse UNO-Fachorganisationen und Wissenschaftler aus aller Welt – beziffern diesen wirtschaftlichen Suizid auch: Ein Hektar Mangrovensumpf „erarbeite“ für die Menschheit einen materiellen Gegenwert von knapp 800 Euro. Legt man diesen Hektar trocken, um ihn landwirtschaftlich zu nutzen, sinkt sein produktiver Wert auf weniger als 100 Euro.

Genau weiß niemand, wie viele Tier- und Pflanzenarten auf der Erde leben. Die Unep-Studie hält eine Anzahl von 13 bis 14 Millionen unterschiedlicher Tier- und Pflanzenarten für am wahrscheinlichsten. Bislang konnten aber erst 1,4 Millionen Arten wissenschaftlich erfasst werden, darunter rund 41.000 Wirbeltiere, knapp 250.000 Blütenpflanzen, Farne und Moose sowie 75.000 Insekten. Die Mehrzahl der Arten werde aber auch verschwunden sein, bevor sie entdeckt werde. Landrodungen, Tourismus, wirtschaftliche Ausbeutung von Umwelt – derzeit seien ein Drittel aller Amphibien und ein Fünftel aller Säugetiere vom Aussterben bedroht. Und: Noch nie sind so viele Arten innerhalb von so kurzer Zeit ausgestorben wie derzeit.

Das allerdings passiert nicht irgendwo – sondern auch vor der Haustür. „Natur wird hierzulande gern mit dem Urlaubsgebiet assoziiert“, sagt Professor Herbert Sukopp, einer der führenden deutschen Stadtökologen. Gerade in deutschen Großstädten habe die Biodiversität ein großes Problem. Vom Igel bis zur Fledermaus – für Stadtökologie werde immer weniger Geld aufgewandt. „Dabei leben mittlerweile über die Hälfte aller Menschen in Städten, in Deutschland sogar 80 Prozent “, so Sukopp. Am 11. Juni soll deshalb ein bundesweiter „Tag der Artenvielfalt“ auf die Probleme hinweisen.

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