Die Vorfreude ist der Film

In den USA campierten fanatische „Star Wars“-Fans vor den Kinos, bei jedem Wetter, bei Tag und Nacht. Manche lebten sogar mehrere Monate auf der Straße – wie Jeff Tweiten (25) in Seattle

AUS SEATTLE PAUL STINSON

Manche Leute sparen ihr Geld, um damit in Urlaub zu fahren. Hier, im schönen pazifischen Nordwesten der USA, zieht es die Menschen in die Natur, in den Nationalpark oder zum Mount St. Helens. Jeff Tweiten verbringt seine Ferien am liebsten in der Betonwüste an der Kreuzung zwischen der 4th Street und Lenora, mitten in einem der sozialen Brennpunkte von Seattle – im „Camp Star Wars“.

Der 25-Jährige ist fast zwei Meter groß, schlank, muskulös – und schätzt, dass er zehn Monate seines Lebens allein damit verbracht hat, unter freiem Himmel und mit Campingausrüstung auf die letzen beiden Episoden von „Star Wars“ zu warten. In den ersten beiden Monaten hat Tweiten nachts kaum geschlafen, sich von Sushi ernährt – bis ihn schließlich der Bürgermeister von Seattle aufforderte, endlich zu verschwinden. Mit der Begründung, dass nicht einmal Obdachlose auf der Straße leben dürften, und das gelte auch für „Star Wars“-Fans.

Tweiten beugte sich, räumte seinen Platz vor dem Cinerama und zog zwei Kilometer weiter vor das Imax-Kino, ganz in die Nähe des Baseballstadions: „Dort bin ich bald ziemlich fett geworden, weil es in diesem Viertel nur Pizza und Hamburger zu essen gibt.“ Einmal haben die Cheerleader der Seattle Supersonics für ihn getanzt und ihn mit Trauben gefüttert.

Tweiten klingt manchmal selbst wie ein Politiker. Dann spricht er über die 10.000 aufmunternden E-Mails, die er schon bekommen hat, und über eine „Zustimmungsrate“ von fast 90 Prozent. Obwohl er sich nicht wie eine Berühmtheit aufführt, ist ihm ein gewisses Selbstbewusstsein nicht abzusprechen. Seit ihn der Bürgermeister wieder auf dem Trottoir vor dem Cinerama campieren lässt, gilt er als prominenter Held der viel verspotteten „Star Wars“-Szene. Kürzlich hat er per Telefon sogar einem Radiosender in Sydney ein Interview gegeben.

Tweiten ist zwar nicht zum Bürgermeister des Todessterns oder zum Jedi von Seattle gewählt worden, hatte aber dennoch eine kurze Begegnung mit der Macht: „Das war, als die Deutsche Telekom ihre Manager auf eine Schnitzeljagd durch die Stadt schickte, damit die ihr gruppendynamisches Potenzial entdecken oder so was.“ Jedenfalls entdeckten sie das „Camp Star Wars“ und machten es zum Teil ihres Projekts. Die Manager mussten auf Zuruf „Star Wars“-Szenen nachstellen und ihre Leistung vom wartenden Fanvölkchen bewerten lassen, nach einer Punkteskala von 0 bis 6.

Wäre darüber ein Film gedreht worden, er hätte „Die Rache der Fans“ heißen müssen. „364 Tage im Jahr machen sich die Leute über uns lustig“, erzählt Tweiten, „aber das war unser Tag. Wir verlangten Szenen, die unmöglich nachzuspielen sind. Aber sie versuchten es. Ich glaube, sie wollten sich wirklich ihre 6 Punkte verdienen.“ Und so schubsten sich unter dem Gelächter der „Star Wars“-Fans hoch bezahlte Telekom-Manager auf dem Gehweg herum, um irgendwelche Weltraumschlachten darzustellen – bis einer der Darsteller einen fatalen Fehler beging und rief: „Hey Boys, beam me up!“

Wann wird ein Fan wirklich wütend? Wenn „Star Wars“ mit „Star Trek“ verwechselt wird. Der öffentliche Spott kümmert sie dagegen weniger, wie Tweiten erklärt: „Wir sind hier draußen und tun, was sich niemand, der sich über uns mokiert, jemals trauen würde, nämlich sich vor der Gesellschaft in einer Weise zu exponieren, die sie niemals verstehen würden. Ich meine, worum geht es im Leben? Für mich geht es um Momente wie diesen. Kann sein, dass deswegen andere auf mich herabschauen, das kann ich aushalten. Ich halte ja auch fünf Monate voller sozialer Ächtung aus.“

Warum? Leben wir nicht in der Ära der Telefone und Computer? Kann nicht jeder bequem im Internet Tickets schon Monate im Voraus bestellen? Oder in letzter Sekunde bei eBay ersteigern? Ohne auf der Straße seine Gesundheit zu riskieren und eine absurd lange Wartezeit in Kauf zu nehmen? Die Technologie macht’s möglich, aber sie macht die Welt auch kälter und anonymer.

Genau deshalb ist Jeff Tweiten hier: „Wie steht’s mit den schönen Dingen im Leben? Mit der Vorfreude? Die Erfahrungen und Freunde, die ich beim Warten auf ‚Star Wars‘ mache, kann ich nicht im Internet kaufen.“

Gern werden die Wartenden aus vorbeifahrenden Autos heraus beschimpft. Die Leute lassen die Scheiben runter und rufen Sachen wie „You suck!“ oder „Get a life!

Tweiten zuckt mit den Schultern: „Was soll ich sagen? Okay, maybe I suck – aber wenigstens fahre ich nicht in einem stählernen Sarg zu einem Job, den ich hasse.“ Jeff verdient in seinem Job als Zeichner für Kinderbücher genug, um sich seine vier Monate Extremurlaub vor dem Kino leisten zu können: „Mit Laptop, drahtlosem Internet-Zugang und Handy kannst du heute überall arbeiten.“

Es sei denn, ein Moderator plaudert im Radio deine Telefonnummer aus, während halb Texas zuhört. Tweiten ist das vor ein paar Wochen passiert: „Mein Handy ist förmlich explodiert, mir sind an diesem Tag viele Aufträge entgangen.“ Der Sender entschädigte ihn mit ein paar hundert Dollar, um einer Klage Tweitens zu entgehen: „Die denken, mit ‚Star Wars‘-Fans können sie’s ja machen, das sind Verlierer. Aber was ist der Unterschied zwischen mir und einem Super-Bowl-Freak? Es gibt Leute, die warten wochenlang vor dem Laden auf limitierte Nike-Turnschuhe. Gäbe es ein ‚Star Wars‘-Ressort in der Zeitung, sie würde täglich gelesen werden“, sagt Tweiten.

Tatsächlich bevölkern Darth Vader, Yoda, Chewbacca, Anakin Skywalker und andere Kreaturen längst die Seiten US-amerikanischer Magazine. In Fernsehen streiten sich Yoda und Chewbacca um eine Dose Pepsi. Darth Vader nutzt seine Kräfte, um die animierten „M & Ms“-Werbefiguren auf „die dunkle Seite der Macht“ zu ziehen. Die Werbung ist lustig, und sie vollendet die Invasion der USA durch George Lucas.

Dass dem „Star Wars“-Regisseur eine glühende Gefolgschaft zu Füßen liegt, das erinnert Tweiten an ein anderes, noch größeres Phänomen der amerikanischen Popkultur: „Es ist wie früher mit Grateful Dead, ganz genauso!“ Die Hippiegruppe hatte Anhänger, die so genannten Deadheads, die ihr jahrelang und in Karawanen von Konzert zu Konzert folgten. Aber Grateful Dead sind schon lange tot. Und in ein paar Stunden öffnet auch das Cinerama seine Pforten, für die erste Vorstellung des letzten „Star Wars“-Film.

Jeff Tweiten sitzt in seinem Campingstuhl. Er macht ein Gesicht, als würde er bald für immer von seiner Familie getrennt werden. Noch eine Woche, dann muss er wieder Miete zahlen.