Die Übung des Zweifels

Die Aufgabe der Hermeneutik ist es, die Dialektik der Dauer im Wandel zu beschreiben. Am Freitag ist der französische Philosoph Paul Ricoeur im Alter von 92 Jahren gestorben

Ein Jahr nach dem Pariser Mai 1968 wurde der Philosoph Paul Ricoeur Rektor der Sorbonne, ebenjener Universität, von der die Revolte ausgegangen war. Ricoeur hielt eine Hochschulreform für unumgänglich und stellte sich gegen die technokratische Reform, wie sie die „loi Faure“ vorsah, mit der die Universitäten staatlich bevormundet werden sollten. Damit geriet der Philosoph des Dialogs zwischen die Fronten von staatlichem Rigorismus und fanatisierten maoistischen Grüppchen. Diese forderten 1969 nicht weniger als „die Zerschlagung der bürgerlichen Universität“. Bei einer der tumultösen Veranstaltungen schütteten ihm eine Hand voll Maoisten eine Mülltonne über den Kopf aus. Der Anführer der Campus-Revolutionäre brauchte bis 1991, um sich bei Ricoeur zu entschuldigen. Ricoeur trat 1970 von seinem Amt zurück und verabschiedete sich in die USA, wo er unter anderem in Yale und Chicago Philosophie lehrte und mit Charles Taylor, Michael Walzer und Charles Larmore arbeitete, die er in Frankreich bekannt machte.

Geboren wurde Ricoeur am 27. Februar 1913 in Valence, wuchs aber in der Bretagne bei Pflegeeltern auf, weil seine Mutter nach der Geburt und der Vater 1915 an der Front starben. Er studierte Philosophie an der Sorbonne und unterrichtete seit 1935 an verschiedenen Gymnasien. 1939 wurde er eingezogen und blieb als Kriegsgefangener bis 1945 interniert in Pommern. Hier lernte er Deutsch und begann deutsche Philosophie zu studieren.

Nach dem Krieg wurde Ricoeur zu einem Wegbereiter der Phänomenologie Edmund Husserls in Frankreich, dessen Hauptwerke er übersetzte. Als gläubiger Protestant war er eine wichtige Figur in der katholisch inspirierten Zeitschrift L’Esprit, über die er in Kontakt kam mit dem katholischen Existenzphilosophen Gabriel Marcel sowie mit dem katholischen Schriftsteller Georges Bernanos. Wie Marcel arbeitete Ricoeur an einer Verknüpfung von Existenzialphilosophie, Religion und Phänomenologie, woraus zahlreiche religionsphilosophische Aufsätze und mehrere Bücher, darunter „Le volontaire et l’involontaire“ (1950), hervorgingen.

1956 kam Ricoeur auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Sorbonne. In den Sechzigern wandte er sich mehr den Sozialwissenschaften, der politischen Philosophie, der Sprachphilosophie und der Psychoanalyse zu. Er setzte sich mit dem Ungarn-Aufstand, vor allem aber mit dem Algerienkrieg (1954–1962) auseinander. Philosophisch bezog er nun immer stärker hermeneutische Positionen, von denen aus er den Human- und Sozialwissenschaften methodische Fundamente einziehen wollte. Damit rückte die Sprache in ihren komplexen Dimensionen von Zeichen, Bedeutung und Sinn in den Mittelpunkt seiner Arbeit.

Die Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss resümierte er in seinem Buch „Hermeneutik und Strukturalismus“ (1969). Darin beharrte er auf der geschichtlichen Dimension jedes menschlichen Handelns und auf den dialektischen zeitlichen Beziehungen zwischen Struktur, Sprache und Ereignis. Er erläuterte das einmal an einem einfachen Beispiel. Wer einen Laden betritt, muss zuvor entschieden haben, was er dort will, was er mit dem Gekauften macht und wohin er nach dem Einkauf gehen will. Das Ganze einer Handlung erhellt sich nicht aus ihren strukturellen Momenten, sondern erst in diachroner Perspektive als erzählte Geschichte („Semantik der Handlungen“, 1978).

Die Summe seiner Arbeiten erschien in den Jahren 1983–85 in drei Bänden unter dem Titel „Temps et récit“ („Zeit und Erzählung“, 1990). Mit seinem letzten Buch („La mémoire, l’histoire, l’oubli“ (2000), deutsch: „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ (2004) entfaltete er – wie im deutschen Sprachraum Reinhart Koselleck – drei Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft. Paul Ricoeur ist am Freitag im Alter von 92 Jahren in Châtenay-Malabry östlich von Paris gestorben. RUDOLF WALTHER