Auf dem Weg zu Dinosaur jr.

Mit dem Theatertreffen in Berlin feiert die Theaterszene zwar alljährlich den Höhepunkt ihrer Saison, die Aufregung aber hielt sich auch in diesem Jahr in Grenzen. Dafür regierte erneut die Beständigkeit, und die Stücke hielten, was sie versprachen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Jede Menge Stars, aber keine Fotografen. Der Blick, der durch die Publikumsreihen bei dem Theatertreffen in Berlin schweift, trifft alle paar Sitze auf bekannte Gesichter von Regisseuren, TV-Moderatoren, Schauspielern und Intendanten. Als wir aus der Redaktion einmal Fotos von dieser zwei Wochen langen Party der Theaterszene haben wollten, winkten die freien Fotografen überraschenderweise ab – das lohnt sich nicht, zu wenig Nachfrage. Ist das symptomatisch? Die Theaterszene feiert den Höhepunkt ihrer Saison, aber ein Medienhype ist das deshalb noch lange nicht.

Dabei geben sie sich Mühe. Die eigene Festivalzeitung, die in sieben Nummern erschien und dem Nachwuchs der Theaterkritiker eine Plattform bot, brachte bis zu zwei Seiten lange Interviews mit den Schauspielern. 3sat übertrug drei Produktionen und zudem jede Menge Ausschnitte und Interviews mit den Regisseuren. Natürlich standen jeden Abend Kartensuchende umsonst vor der Tür. Aber die große Aufregung, wie sie ein Unternehmen mit diesem Aufwand eigentlich erwarten ließe, stellte sich trotzdem kaum ein.

Vielleicht lag es dieses Jahr daran, dass sich das Theatertreffen mit der Einladung von zehn „bemerkenswerten“ Inszenierungen als Verein von großer Beständigkeit erwies. Andrea Breth, die ihre Inszenierung nur als Film schickte, Stefan Pucher, Johan Simons, Jossi Wieler, Michael Thalheimer, Andreas Kriegenburg, Jürgen Gosch – sie alle waren schon oft beim Theatertreffen. Und die Stücke hielten, was sie versprachen.

Theaterklassiker und die Bearbeitung von Romanstoffen, zu Beginn der Spielzeit noch polemisch gegeneinander ausgespielt, als wären sie unterschiedlichen Begriffen des Theatralischen und Dramatischen verpflichtet, standen friedlich nebeneinander. Als folgte dem Zersplittern in die Facetten der Diskurse wieder die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Erzählung, bestimmten Geschichten und die Intimität des Kammerspiels vielfach die Szene. Gerade auch in den Romanbearbeitungen – „Homo Faber“ und „Elementarteilchen“ – stand die Liebes- und Beziehungsfähigkeit des Menschen auf dem Prüfstand, als würde von ihr alles abhängen, was in Zukunft vom Lauf des Lebens noch zu erwarten ist. Edward Albees Klassiker „Wer hat Angst vor Virgina Woolf“, den Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin mit Corinna Harfouch und Ulrich Matthes inszenierte, könnte da fast programmatisch gemeint sein: der Mikrokosmos der Beziehung als glühendste aller Wirklichkeiten.

Damit kam auch eine Schauspielkunst wieder zu ihrem Recht, die ganz aus der scharfen Konturierung eines Charakters leben kann und sich nicht um die Krusten scheren muss, die die Rezeptionsgeschichte um ihn gelegt haben. Ulrich Matthes war es denn auch, der auf einer Diskussion über den Zustand der Theaterkritik in Deutschland klagte, dass sie sich viel zu sehr an den Konzepten der Regisseure abarbeite und fast nichts über die Leistung der Schauspieler zu sagen wisse. Dass ein Schauspieler dies fordert, ist nicht verwunderlich, aber dass ihm das gesamte Podium (mit Dagmar Reim, Rundfunkintendantin des RBB, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Moderator Hans Eichel) zustimmte, schon. Als wollten sie ein Theater zurück, das über die Namen seiner Schauspielstars identifizierbar ist.

Natürlich waren sie großartig, die Schauspieler auf diesem Treffen: Allen voran wieder Fritzi Haberlandt als Lulu (in einer Inszenierung von Thalheimer), die sich und ihren Körper halb belustigt, halb widerwillig den Männern als Projektionsfläche ihrer skurrilen Vorstellung von Liebe und Erotik überlässt – werden schon sehen, was sie davon haben. Man möchte auch von Nina Kunzendorf als Ysé schwärmen, deren verwirrende Ausstrahlung zwischen Verlangen und Abkapselung das Beste an dem Stück „Mittagswende“ von Paul Claudel ist, das der Regisseur Jossi Wieler ausgegraben hat. Genau bei diesem Stück aber beginnt man sich zu fragen, ob es denn nicht auch eine Verschwendung von schauspielerischen Ressourcen ist, so viel Mühe auf eine Rolle zu verwenden, die letztendlich kaum über den Topos der „Frau als unlösbares Geheimnis“ hinauskommt. Erst das Programmheft gibt Aufschluss, wie der Autor Claudel diese Figur funktionalisiert hat, um dem problembeladenen Mann einen Vorwand zu liefern.

Interessanter waren dann doch die Inszenierungen, die wie „Homo Faber“ von Stefan Pucher und die „Elementarteilchen“ von Johan Simons die literaturkritischen Lesarten als Teil der Inszenierung begriffen, auch wenn die Rollen dabei aus der Identifikation mit einem Charakter hinübergleiten in dessen Kommentierung. Faber zum Beispiel wird gleich von einer ganzen Reihe von Schauspielern verkörpert, die zugleich die Rolle, die Max Frisch in der Schweiz einnahm, die Bedeutung des Intellektuellen in seiner Zeit und die Erinnerung an den Roman als Schullektüre mit in ihre Erzählungen aufnehmen. Die „Elementarteilchen“ entfalten ihren Witz und ihre Traurigkeit gerade daraus, dass André Jung und Robert Hunger-Bühler als die Brüder Bruno und Michel ihr Leben im Rückblick erzählen und sich jede mimetische Anteilnahme an den jetzt aus großer Distanz ins Auge gefassten Erregungen versagen. Ihre Lakonie ist völlig antidramatisch und gerade darin bestürzend: als ob man von Gefühlen bald nur noch in der Vergangenheitsform reden kann.

Ausgerechnet bei Christoph Schlingensiefs „Kunst & Gemüse“ finden sich die rührendsten Bilder für die Sehnsucht nach alter Theaterkunst. Durch seine Inszenierung irrt, weißhaarig und schon ein bisschen krumm, Peter Müller und gibt vor zu glauben, der hundertjährige Johannes Heesters zu sein. Für das Berliner Kunstpublikum ist Peter Müller eine vertraute Erscheinung, jahrelang besuchte er alle Vernissagen und lächelte alle an. Als Schauspieler sah man ihn noch nie, doch es scheint, als hätte er nur die Familie gewechselt.

Im Rahmen des Theatertreffens gewinnt die Melancholie, mit der Schlingensief sein Misstrauen in die Institution Theater und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen artikuliert, wieder an Gewicht. Ohne ihn, der zum ersten Mal eingeladen war, wäre es doch sehr klassisch zugegangen.