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: Nackte Könige

Die stumme „Revolution“ wirkt Wunder: Maulkorb für Großmeister garantiert Schach-Schlachten statt Remisvereinbarungen

Jahrelang hatte das Fußvolk auf solch prickelnde Szenen gewartet. Und siehe da: Endlich gab es in Sofia nackte Könige zu sehen! Gleich in drei Partien standen am Schluss der weiße wie der schwarze Monarch mutterseelenallein ohne einziges verbliebenes Bäuerlein auf dem Schachbrett. Zufrieden nannte Organisator Silvio Danailow sein Turnier eine „Revolution“. Den Bulgaren hatte ebenso wie viele Fans rund um den Globus das regelmäßige Remisgeschiebe der Topspieler genervt. Bei Paarungen zwischen dem Inder Viswanathan Anand und Weltmeister Wladimir Kramnik (Russland) beispielsweise standen Friedensangebote nach ein paar heruntergespulten Eröffnungszügen auf der Tagesordnung.

Bei dem 600.000 Euro teuren Wettbewerb in Sofia nun durften Anand und Kramnik am Brett nicht miteinander parlieren – und siehe da: Das zweite Duell der beiden entschied der „Tiger von Madras“ nach einem katastrophalen Schnitzer Kramniks in lediglich 20 Zügen für sich. Das sollte die kürzeste Partie des gesamten Turniers bleiben. Dank der stummen Revolution wurde bis zum letzten Bauern gekämpft, fast ein Drittel der 30 Partien ging über 60 und mehr Züge – ein Novum im Spitzenschach, das zuletzt mit kurzzügigen Arbeitsverweigerungen der Profis nervte. Man stelle sich die Reaktionen von Fußballfans vor, würden die Kicker nach einer Viertelstunde vom Feld schleichen, weil beiden Seiten ein Endergebnis von 0:0 als ganz passabel erschiene.

Die Statistiken von Sofia hingegen begeisterten die Fans: 12 der 30 Vergleiche hatten einen Sieger, nur 60 Prozent der Partien endeten friedlich; und selbst die hatten es mit durchschnittlich 49 Zügen mehr in sich als sonst. „Endlich werden die Spieler mal gezwungen, Partien auszuspielen, sodass jeder Zuschauer das Endergebnis versteht und auf seine Kosten kommt! Ein super Turnier“, jubilierte ein Amateur im Internet. Anstatt selbst darüber befinden zu können, ob eine Partie remis ist, mussten die sechs Großmeister den Schiedsrichter für einen Friedensschluss hinzuziehen. In der Begegnung zwischen Judit Polgar und Ruslan Ponomarjow forderte der als Referee angeheuerte Ex-Europameister Surab Asmajparaschwili die Akteure zu weiterem Einsatz auf. Erst wenig später gab der Georgier dem Ansinnen nach einem Unentschieden – wie in fünf weiteren eindeutigen Fällen – nach. Neunmal endeten die Begegnungen gemäß der Schachregeln durch Dauerschach oder dreifache Stellungswiederholung ohne Sieger; dreimal kämpften die Teilnehmer bis zu den so genannten nackten Königen.

Angesichts des Erfolgs des Schweigegelübdes für die Großmeister geriet der Endstand beinahe zur Nebensache. Mit dem drahtigen Wesselin Topalow (6,5:3,5 Punkte) gewann der einsatzfreudigste Spieler. „Für mich bedeutete das Remisverbot keine sonderliche Umstellung“, kommentierte der stets kampfeslustige Bulgare. Ganz anders Kramnik, der als Einziger des Sextetts „keine großen Unterschiede zu sonstigen Turnieren“ bemerkt haben wollte. Der Weltmeister lamentierte schon zur Halbzeit, Ruhetage seien bei solch einem Wettbewerb dringend erforderlich. Der Russe verpatzte auch in der letzten Runde eine Gewinnstellung gegen Lokalmatador Topalow und belegte zum ersten Mal seit 1996 den letzten Platz eines Turniers.

Die stets engagierte Judit Polgar (Ungarn) und Ex-Weltmeister Ruslan Ponomarjow bildeten mit 5:5 Zählern das Mittelfeld. Auch die überragende Schachspielerin auf dem Globus brach eine Lanze für den Maulkorb. „Diese interessante Regel sollte bei Turnieren häufiger verwendet werden. Sie sorgt für längere Partien, die zudem extrem spannend verlaufen“, urteilte Polgar. Auch der zweitplatzierte Anand (5,5:4,5) bescheinigte dem Experiment „nur positive Effekte“. Negativ für den Inder war allerdings der Turnierausgang. Schien der 35-Jährige nach dem Rücktritt von Garri Kasparow die designierte Nummer eins der Weltrangliste zu sein, rückt ihm nun Topalow beängstigend dicht auf die Pelle. Anand scheint die Gefahr erkannt zu haben. Seinem Kontrahenten bescheinigte er jedenfalls eine für einen 30-Jährigen „großartige Entwicklung“.

HARTMUT METZ