„Die Mafia trägt weiße Kragen“

INTERVIEW MICHAEL BRAUN

taz: Signor Lumia, die Polizei kommt Bernardo Provenzano, dem Boss der Bosse der sizilianischen Mafia, immer näher. Seit 42 Jahren gilt der Mann als abgetaucht – ist er jetzt aktionsunfähig?

Giuseppe Lumia: Provenzano hat in den letzten Monaten harte Schläge einstecken müssen. Die Verhaftungen diverser Personen aus seinem engsten Kreis zeigen, dass die Polizei ihrem großen Ziel näher kommt: der Festnahme Provenzanos. Aber zugleich ist es notwendig, die Schutzmechanismen zu enthüllen, die Provenzano in den ganzen letzten Jahren zugute kamen. Das System der Cosa Nostra ist stark genug, um auch eine Verhaftung ihres wichtigsten Bosses zu überstehen. Die Cosa Nostra wird erst getroffen, wenn drei entscheidende Punkte angegangen werden: die territoriale Verankerung, die Verflechtungen mit der legalen Wirtschaft und die Verflechtungen mit der Politik.

Nur so lässt sich wohl auch erklären, dass Provenzano seit Jahrzehnten ziemlich ungestört „auf der Flucht“ ist?

Provenzano profitierte über Jahre von der geringen Aufmerksamkeit, die ihm durch die Polizei zuteil wurde. Nicht umsonst vertreten viele die These, wirklich sei die Jagd auf ihn erst 1993 eröffnet worden. Aber all dies erklärt nicht, warum er heute noch frei ist. Wir haben hier zwei Hypothesen. Erstens: Provenzano verfügt über ein so dichtes Netz von Kontakten im Staatsapparat, durch das er alle notwendigen Informationen erhält. Das ist schon eine erschreckende Vorstellung. Aber die zweite ist noch schlimmer. In einer dramatischen Phase für unser Land, in den Jahren 1992/93, als die Mafia zahlreiche blutige Anschlägen verübt hat, soll es direkte Verhandlungen zwischen Provenzano und dem Staat gegeben haben. Der Preis dafür, den „blutrünstigen“ Flügel der Cosa Nostra zu stoppen, war, dass der „kompromissbereite“ Flügel unangetastet blieb. Diese „Mafia im weißen Kragen“ ist auf den ersten Blick weniger schädlich, was grausame Verbrechen angeht. Auf den zweiten Blick richtet er aber einen viel größeren Schäden für die Demokratie, die Wirtschaft, die Gesellschaft an. Nach dieser zweiten Theorie ist Provenzano durch diesen Pakt noch heute geschützt.

Tatsache ist aber: Seit mehr als zehn Jahren hat die Mafia auf spektakuläre Verbrechen verzichtet. Ist sie geschwächt?

Ich kann nur wiederholen: Die Cosa Nostra ist ein System, ein Machtsystem. Darin gibt es einen „militärischen Flügel“ und einen Flügel, der stärker auf die Kontakte der Mafia nach außen achtet. Abgetaucht ist in den letzten Jahren nur der militärische Flügel, weil die Cosa Nostra der Auffassung ist, dass die eigenen Interessen es in dieser Phase erfordern, den bewaffneten Flügel an der kurzen Leine zu halten. Aber auch, weil nach 1992/93 die Mafia durch den Staat stärker bekämpft wurde.

Ist der „zivile“ Flügel dadurch gestärkt worden?

Insgesamt hat die Mafia einen klaren Richtungswechsel vollzogen. Die Cosa Nostra setzt heute weniger auf Gewalt und mehr auf Komplizenschaft. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der Wirtschaft. Die Cosa Nostra tritt an die Unternehmer als „Partner“ heran, in der Logik „gemeinsamer Geschäfte“, die beiden Seiten zum Vorteil gereichen: Kontrollieren wir gemeinsam die öffentlichen Ausschreibungen, teilen wir uns die staatliche bereitgestellten Ressourcen, waschen wir gemeinsam das Geld, das aus den illegalen Aktivitäten stammt. Erst also ein freundliches Angebot, und wenn das nicht zieht, im zweiten Schritt die Drohung.

Auch in der Politik agiert die Mafia heute als Partner, der Allianzen vorschlägt, statt auf Drohgebärden zu setzen. Doch Vorsicht! Erstens bleibt die militärische Komponente der Mafia immer präsent. Und zweitens ist die „friedliche Komponente“ auf ihre Weise gefährlicher. Denn sie vermag es, ein sauberes Gesicht zu zeigen und die gesamte Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu durchdringen und zu untergraben.

Eine Behauptung, die man immer wieder über die Mafia hört, ist, dass sie heute zu rigiden Formen der Geheimhaltung greift. Ist das nicht ein Widerspruch? Schließlich kann der Mafioso nur „Respekt“ verlangen, wenn er als Mafioso bekannt ist.

In der Tat. Die „Unsichtbarkeit“ betrifft nur die militärische Komponente. Auf der anderen Seite gilt: Die „Sichtbarkeit“ der Cosa Nostra ist nicht die Sichtbarkeit eines legalen Unternehmens, das einen Markennamen und Werbung braucht. Sie ist auch nicht die Sichtbarkeit der Politik, die zum Beispiel Wahlkundgebungen veranstaltet. Die Sichtbarkeit der Mafia funktioniert über andere Kodizes: über bestimmte Verhaltensweisen, über Botschaften. Ziel dieser Kommunikation ist immer, die eigene Existenz zu signalisieren, dabei aber doch ein höchstmögliches Niveau an Geheimhaltung, an omertà zu gewährleisten.

Das Niveau der Geheimhaltung ist in den letzten Jahren neu definiert worden, da die Cosa Nostra Schläge einstecken musste: Kronzeugen haben ausgesagt, und die Überwachungs- und Abhörmethoden sind auch viel besser geworden. Die Cosa Nostra sah sich deshalb gezwungen, auf ein Organisationsmodell zu setzen, das die verschiedenen Sektoren der Organisation viel stärker voneinander abschottet. Früher galt die Regel, dass alle Bosse alles wussten. Heute weiß jeder Boss nur das für seine Aktivitäten Notwendige. Die Cosa Nostra setzt auf größere Autonomie der lokalen Strukturen, und die Cupola, das höchste Leitungsorgan, befasst sich nur noch mit den zentralen Fragen.

Haben sich denn auch die zentralen Geschäftsfelder der Mafia geändert?

Nein. Wir haben weiterhin drei Felder. Da ist zunächst die Schutzgelderpressung. Sie ist doppelt wichtig. Zum einen gewährleistet sie eine lückenlose Kontrolle des Territoriums; dank der Schutzgelderpressung hat die Mafia den vollkommenen Überblick über alle wirtschaftlichen Aktivitäten, auch über deren Entwicklung. Zum anderen kommt laufend frisches Geld rein. Geld, das dazu dient, die Basis der Mafia zu finanzieren, die laufenden Ausgaben der Bosse und ihrer Familien, die laufenden Ausgaben der im Gefängnis einsitzenden Mafiosi.

Das zweite Geschäftsfeld sind die staatlichen Ressourcen, vor allem öffentliche Ausschreibungen. Entweder schaltet sich die Mafia direkt bei der Ausschreibung eines staatlichen Auftrags mit eigenen Unternehmen ein, oder sie verdient später bei der Auftragsausführung mit, zum Beispiel indem sie den Unternehmen bestimmte Lieferanten „ans Herz legt“, indem sie Schutzgeld erhebt oder indem sie die Einstellung bestimmter Arbeiter verlangt.

Und ein drittes Geschäftsfeld bleibt wichtig: der Drogenhandel, auch wenn er heute öffentlich kaum wahrgenommen wird. Daneben gibt es tausend weitere Aktivitäten, zum Beispiel Wucherkredite, Betrugsgeschäfte, illegale Abfallentsorgung oder Produktfälschung.

Die Beziehung zwischen Mafia und Politik ist in Italien heute kaum Thema. Dabei gab es im Oktober 2004 den Freispruch Giulio Andreottis; einen Freispruch, der dem ehemaligen Ministerpräsidenten bescheinigt, er sei bis 1980 Mafioso gewesen. Dann wurde im Dezember Marcello Dell'Utri, ein enger Berlusconi-Mitarbeiter, in erster Instanz zu neun Jahren Haft verurteilt – als Unterstützer der Mafia. Und schließlich steht nun Totò Cuffaro, der Präsident der Region Sizilien, in Palermo vor Gericht. Auch er soll der Mafia geholfen haben. Die Öffentlichkeit schweigt dazu. Warum?

Wann immer ein Politiker freigesprochen wird, spricht das Land über den Fall: die Staatsanwälte werden attackiert, die Beziehungen zwischen Mafia und Politik heruntergespielt. Wenn es dagegen zu Verurteilungen kommt – Dell'Utri zum Beispiel ist ja kein kleines Licht –, wird der Fall praktisch totgeschwiegen. Das gilt auch für den wirklich wichtigen Prozess gegen Cuffaro. Unser Land hat noch nicht den Mut entwickelt, die Komplizenschaft zwischen Politik und Mafia wirklich sehen zu wollen.

Werden wir den Tag erleben, an dem die Mafia besiegt ist?

Ich glaube fest daran. Der 1992 von der Mafia ermordete Richter Giovanni Falcone sagte immer: „Die Mafia ist ein menschliches Phänomen, und wie alle menschlichen Phänomene hat sie ebenso einen Anfang wie ein Ende.“ Wenn wir den Kampf gegen die Mafia wirklich zu einer nationalen Aufgabe machen, ist ihre Niederlage durchaus möglich.