„Wir lernen noch“

Dietmar Hamann verrät, warum der FC Liverpool etwas Besonderes ist. Heute Abend steht er als einziger deutscher Fußballer im Champions-League-Finale. Gegner und Favorit ist der AC Mailand

INTERVIEW TOBIAS SCHÄCHTER

taz: Herr Hamann, wie schmeckt Ihnen „Scouse“?

Dietmar Hamann: Wie bitte?

„Scouse“, ein Resteeintopf, dem die Liverpooler unter anderem ihren Spitznamen „Scouser“ verdanken.

Ach so. Da muss ich leider passen, habe ich nie probiert.

Sind Sie nach sechs Jahren in Liverpool inzwischen trotzdem ein bisschen zum „Scouser“ geworden?

Ich bin natürlich schon noch Bayer. Aber Liverpool ist so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Die Gastfreundschaft hier ist grandios, meine Familie und ich haben viele Bekannte und Freunde hier. Sollten wir einmal weggehen, gibt es genug Gründe, immer wieder zurückzukommen. Ich fühle mich ein bisschen als eingebürgerter Scouser.

Was ist so besonders daran, ein „Scouser“ zu sein?

Die Geschichte dieses Vereins ist einfach einzigartig. Und durch die beiden Tragödien – Heysel 85 und Hillsborough 89 – ist die ohnehin schon einzigartige Beziehung zwischen Fans, Mannschaft, Stadt und Verein noch intensiver geworden. Speziell seit Hillsborough spürt man ein noch größeres Zusammengehörigkeitsgefühl.

Wie äußert sich das?

Es klingt abgedroschen: Aber wenn vor einem Spiel das ganze Stadion „You’ll never walk alone“ singt, dann hat das seit Hillsborough eine noch tiefere Bedeutung. Man muss schon ein Kühlschrank sein, um da keine Gänsehaut zu bekommen.

Das nutzt sich nicht irgendwann ab?

Ich glaube, man kann hier so lange spielen, wie man will: Wenn du den Spielereingang hochläufst, siehst dieses Schild auf dem „This is Anfield“ steht und die Leute „You’ll never walk alone“ singen, dann kriegst du eine Gänsehaut. Egal ob du zum ersten Mal einläufst oder zum tausendsten Mal.

Ist die Vereinsgeschichte nicht manchmal auch eine Bürde für die Spieler?

Mit Sicherheit. Es gab Zeiten, da bestellten die Leute mehr Autogrammkarten von Spielern aus den 70ern und 80ern als von der aktuellen Mannschaft. Ich glaube, das sagt alles. Viele Leute leben noch in der Vergangenheit und sehnen sich nach den Erfolgen von früher. Die Erwartungen sind immens. Aber für uns Spieler ist das auch ein Ansporn. Du spürst diese Verantwortung, bist deshalb nie zufrieden und willst an die Erfolge anknüpfen. Zugegeben: Wir konnten den Erwartungen nicht immer gerecht werden in den letzten Jahren. Andererseits wirst du hier nicht nur nach Ergebnis beurteilt, die Leute hier sind auch dankbar, wenn sie sehen, dass du alles gibst. Dann applaudieren sie sogar nach Niederlagen. Man hat hier ein Gespür für den Charakter eines Spielers.

Mit dem Einzug ins Champions-League-Finale ist viel von dem Beginn einer neuen Ära die Rede.

Ich glaube es ist möglich, weil wir mit Rafael Benitez einen der besten Trainer der Welt haben.

Was zeichnet ihn aus?

Er ist unheimlich menschlich, er ist offen, er ist direkt, und er ist überzeugt von sich selbst, weil er mit Valencia schon bewiesen hat, dass er Erfolg haben kann. Außerdem ist er witzig und unheimlich cool, behält in jeder Situation einen kühlen Kopf. Aber das wichtigste ist seine Ehrlichkeit. Benitez spielt keine Spielchen mit den Spielern. Ich habe selten einen Trainer erlebt, der seine Spieler so respektiert und akzeptiert wie er. Er ist als Fachmann und Mensch unantastbar.

Ab wann hat die Mannschaft daran geglaubt, ins Finale zu kommen? Gab es ein Schlüsselerlebnis?

Ganz klar: Das war das Rückspiel in Leverkusen. Wir haben dort souverän 3:1 gewonnen, obwohl unser Polster nach dem 3:1 im Hinspiel nicht so groß war und Leverkusen zu Hause bis dahin immer klar gewonnen hatte. Nach diesem Auftritt haben wir gedacht: Hoppla, mit dieser Leistung können wir weit kommen.

Das Halbfinale gegen Chelsea wird als das beste Spiel Ihrer Karriere bezeichnet und ist in Liverpool bereits Legende.

Von meiner Leistung weiß ich das nicht genau. Aber von der Atmosphäre her, habe ich das, was an diesem Abend an der Anfield Road abgelaufen ist, noch nie erlebt. Die Leute hier sagen, dieser Abend hat selbst das legendäre 3:1 gegen St. Etienne von 1977 übertroffen, als man damals ins Halbfinale des Meistercups einzog. Wenn Anfield so etwas 30 Jahre nicht gesehen hat, dann bin ich schon ein bisschen stolz, dabei gewesen zu sein.

„Ich fahre gern zur Nationalmannschaft“

Vor der Saison hat Liverpool das Finale niemand zugetraut. Inzwischen glauben viele sogar, sie könnten Milan schlagen.

Milan ist der Favorit. Aber wir haben große Mannschaften wie Juventus und Chelsea ausgeschaltet. Es ist der Höhepunkt unserer Karriere. Wir freuen uns darauf wie kleine Kinder und sind ziemlich locker. Vor was sollten wir Angst haben?

In der Liga ist Liverpool nur Fünfter geworden. Selbst wenn die Mannschaft heute gewinnt, ist sie nicht für die kommende Champions-League qualifiziert.

Die Meisterschaft war eine Enttäuschung. Wir hatten viele Verletzungsprobleme und zum ersten Mal den großen Erfolg in Europa. Wir sind eben noch nicht in der Lage, so wie Arsenal, Manchester oder Chelsea, Spiele gegen schwächere Gegner mit nur 80 oder 90 Prozent zu gewinnen. Wir befindet uns noch in einem Lernprozess.

Ihr Vertrag läuft aus. Werden Sie bleiben?

Ich werde erst nach dem Finale eine Entscheidung treffen. Es ist möglich, dass ich in Liverpool bleibe, aber es kann auch sein, dass ich woanders hingehe.

Direkt nach dem Kraftakt im Halbfinale gegen Chelsea haben Sie gesagt, Sie wären froh, nach dem Finale in Urlaub fahren zu können. Daraus wird nun nichts: Jürgen Klinsmann hat Sie für den Confederations-Cup nominiert.

Nach meinen Informationen war meine Nominierung nicht geplant. Ich habe das positiv gesehen und gedacht: Jetzt kann ich länger Urlaub machen. Das ist jetzt nicht der Fall, und ich freue mich darüber. Ich fahre gern zur Nationalmannschaft.

Warum hat Klinsmann Sie doch noch nominiert?

Vielleicht hat das Chelsea-Spiel den Ausschlag gegeben.