Spaltpilz EU-Verfassung

Wie werden die Franzosen entscheiden? Die Stimmung ist angespannt wie nie zuvor. Ja- und Neinsager streiten weiter

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Lügner!“, rufen die Befürworter. „Lügner!“, antworten die Gegner. Anlass: die EU-Verfassung. Vier Tage vor dem Referendum in Frankreich ist die Stimmung gespannt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Erschwerend kommt hinzu, dass die Methoden der beiden Seiten inkompatibel sind: Die Befürworter bestreiten ihre Kampagne mit dem Prinzip: sie sind für die EU, ergo auch für ihre Verfassung. Die Gegner, deren Mehrheit ebenfalls proeuropäisch ist, zitieren aus dem Text.

Staatspräsident Jacques Chirac will heute Abend erneut im Fernsehen versuchen, seine Landsleute von den Vorzügen der Verfassung zu überzeugen. Es ist sein dritter TV-Auftritt in dieser Sache. Laut Meinungsumfragen wollen 53 Prozent der Franzosen gegen die Verfassung stimmen, darunter 55 Prozent der Wähler der PS. Um sie geht es. Um die Stimmen der anderen Non-Sager – die Nationalisten und Rechtsextremen, die Kampagne gegen ein „türkisches Europa“ machen und die seit Jahren gegen jedes Projekt aus Brüssel sind, bemüht sich in Frankreich längst niemand mehr.

„Nein zu den Sklavenschiffen“, steht auf dem Transparent, mit dem Gewerkschafter am Montag im Hafen von Cherbourg am Montag ein Boot der Irish Ferries blockieren. Die Gesellschaft hat am Jahresanfang 187 irische Seeleute entlassen. An ihrer Stelle arbeiten jetzt Osteuropäer und Philippiner an Bord. „Die Iren bekommen 15 Euro die Stunde, die Osteuropäer 4,5 Euro und die Philippiner 1 Euro“, erklärt ein französischer Seefahrer, „wenn die Irish Ferries ihre Lohnkosten so senkt, ist das Sozialdumping für uns alle.“ Die Demonstranten verlangen verbindliche soziale Mindeststandards von der EU. Weil das nicht in der Verfassung steht, werden sie dagegen stimmen.

„Für Chirac ist es einfach, zu sagen: Habt keine Angst“, schimpft eine Arbeiterin im zentralfranzösischen Saint-Yorre. Ihre Fabrik für Isolierstoffe will 286 von 294 Arbeitsplätzen streichen. Das Werk wird ins Ausland verlegt. In dem 2.500-Einwohner-Ort lassen sich keine bekennenden Verfassungsbefürworter finden. „Wenn der Text schon in Kraft wäre, hätte man uns aus unserer Fabrik ausgesperrt“, meint die Arbeiterin.

Dreizehn Jahre nachdem Ex-EU-Kommissionspräsident Jacques Delors seinen Landsleuten beim Maastricht-Referendum eine sozialere EU und weniger Arbeitslosigkeit in Aussicht gestellt hat, sind viele umgeschwenkt. Allen voran die einstige First Lady. Danielle Mitterrand, deren Ansehen in der französischen Linken groß ist, hat im Fernsehen erklärt, sie werde mit „non“ stimmen. Weil sie keine „liberale Diktatur“ wolle. Ihre Nachfolgerin Bernadette Chirac, die einen bestimmten provinziellen Konservatismus bedient, macht Kampagne für ein Ja: „Die Franzosen haben noch nicht verstanden, dass die Rolle unseres Landes in der Welt von der Zustimmung abhängt.“

„Jeder Mensch hat das Recht auf Leben“, so steht es in Artikel II-62 der Verfassung. Der Satz, auf den sich militante Lebensschützer gern vor Gericht beziehen, spaltet die französischen Feministinnen. „Er sieht unschuldig aus, zumal gleich danach ein Verbot der Todesstrafe folgt“, sagt die Anwältin Gisèle Halimi, „aber er ist gefährlich.“ Schwangerschaftsabbrüche sind in vielen EU-Ländern unter bestimmten Bedingungen erlaubt. In anderen sind sie verboten. Für Malta hält die EU-Verfassung ausdrücklich fest (Schlussakte Titel VII, S. 334 deutsche Fassung), dass eine etwaige Liberalisierung das Land nicht betreffen werde. Halimi: „Nirgends steht, dass eine Frau selbst entscheiden kann, ob und wann sie Kinder möchte.“

Am anderen Ende steht Simone Veil. Als Ministerin hat sie in Frankreich in den 70er-Jahren das Recht auf Abtreibung durchgesetzt. Heute argumentiert sie, dass es nicht angetastet werden könne. Veil, die inzwischen Mitglied in dem zu Neutralität verpflichteten Verfassungsrat ist, hat für die Kampagne Urlaub als Verfassungsrichterin genommen.

Die innerfranzösischen Spaltungen erreichen auch Deutschland, wo keine Debatte über die Verfassung stattgefunden hat. Morgen, wenn in Frankreich die Abschlusskundgebungen stattfinden, werden unter den ausländischen Gästen auch zwei innerdeutsche Widersacher auftreten. Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Verlierer von Nordrhein-Westfalen, will in Toulouse dem PS-Politiker Dominique Strauss-Kahn zu einem Sieg beim „oui“ verhelfen. Oskar Lafontaine tritt in Paris zusammen mit dem früheren PS-Chef Henri Emmanuelli auf. Gegen die Verfassung.