Hirsche dürfen wieder röhren

VON DIRK KNIPPHALS

Im Zweifel hilft der Sprechtest. Sagen Sie es doch ruhig ein paar Mal vor sich hin, das Wort von der „geistig-moralischen Wende“. Damals, 1982, als man es Helmut Kohl zuschrieb, der von einer „geistig-moralischen Herausforderung“ gesprochen hatte, und noch viele Jahre danach verfiel man unwillkürlich in einen parodierenden Tonfall. Man sagte „geischtig-moralische Wende“ und wackelte dabei mit dem Kopf. Zungenbegabte Freunde von mir gaben diesen Wörtern gerne auch einen schnarrenden Nazi-Sound, zumindest abends in der Kneipe, nach dem dritten Bier. Sie sagten zackig „geischdik-morallische Wwwende“ und schlugen manchmal noch die Hacken zusammen. Lacher der Umstehenden waren garantiert.

Und heute? Und bei diesem gerade begonnenen Wahlkampf? Würde jemand in diesen Tagen noch mit demselben zungenakrobatischen Ehrgeiz aufwarten, man würde wohl einfach abwinken. Okay, bei Stoiber ging das vielleicht gerade noch. Aber bei Merkel? Ach, komm …

Das sagt etwas. Etwas wie: Die von der CDU/CSU werden sich schon nicht noch einmal so blamieren wollen wie Helmut Kohl damals! Dass es jetzt schlimm wird, erwartet man im Sozialen und vielleicht in der Ökologie. Befürchtungen hat man bei der Außenpolitik. Dass darüber hinaus aber ein Regierungswechsel heftige Bewegung im gesellschaftlich-kulturellen Bereich aus Homoehe, Einwanderungsrecht, Umgang mit Patchworkfamilien und sonstigem „Gedöns“ (Gerhard Schröder) mit sich bringen würde, vermutet man kaum. Schritte in Richtung harter moral majority und family values wie etwa in den USA werden sie schon nicht machen. Und wenn? Irgendwie, so das Kalkül, ist unsere Gesellschaft doch schon ziemlich liberal geworden. Wenn sie es versuchen sollten, kämen sie damit eben nicht durch.

Aber ist man sich dessen wirklich sicher? Nein, das ist man sich nicht. Auf ein „Es wird schon nicht so schlimm werden“ folgt im Gespräch oft ein zögerliches „Glaube ich zumindest“. Außerdem kann es sein, dass die geistig-moralische Wende zwar bestimmt nicht so kommt, wie beim letzten Mal angekündigt – mit Rückkehr zu Familie, Vaterland und so weiter –, aber dafür eben anders, in einer modernisierten, den Zeitläuften angepassten Version vielleicht. Vielleicht ist sie teilweise auch schon längst da? Wäre also schon gut, wenn man sich über die Bewusstseinslage der Gesellschaft einmal klar werden könnte. Stimmt schon, mit solchen Allgemeinaussagen befindet man sich auf unübersichtlichem Gelände. Aber irgendwo muss man ja anfangen! Beginnen wir also mit drei Stichproben. Erzählen wir kurze Geschichten rund um röhrende Hirsche, zwei Taschenmesser und die Rechtschreibreform. Und schauen wir uns dabei zu, was sich daraus für Indizien im geistig-moralischen Feld ableiten lassen.

Die Hirsche

Zunächst die röhrenden Hirsche. Die waren, schön in Öl gemalt, gerahmt und übers Sofa gehängt, einmal der Inbegriff für das Konservative schlechthin. Wer einen röhrenden Hirsch im Wohnzimmer hatte, liebte den Wald, seine Heimat, seinen Chef und sonntags einen schönen Braten. Es gibt ein berühmtes Foto von Helmut und Hannelore, wie sie gerade Rehkitze streicheln. Wenn seine „geistig-moralische Wende“ also ein Wappentier hatte, dann den röhrenden Hirsch.

Die Sache ist nun die, dass man dieses Tier, das ja während der Modernisierungszeit Deutschlands lange verschwunden war, gerne wieder sieht – und zwar nicht allein auf Flohmärkten. Man trifft darauf in angesagten Restaurants, gerne auch in sorgfältig eingerichteten Wohnungen, und sogar in aktuellen Kunstausstellungen röhren sie dann und wann wieder malerisch herum.

Geistig-moralisch ist an dieser Renaissance nun erst einmal selbstverständlich gar nichts. Aber sie zeigt doch, dass sich auch der Konservatismus inzwischen gewandelt hat. Wer meint, heutzutage noch auf in sich geschlossene und abgeschottete konservative Weltbilder zu treffen, wie Helmut Kohl sie noch repräsentierte, der täuscht sich. Nicht allein, dass röhrende Hirsche und andere Insignien des Konservativen (Kirchenbesuch an Weihnachten, klare Rollenaufteilung in der Küche) längst auch von links-alternativen Kreisen sozusagen zitierbar sind. Es ist auch so, dass konservative Lebensentwürfe sich als in sich bunter und offener gestaltet erweisen. Ein röhrender Hirsch zieht längst nicht mehr automatisch auch sonstiges Gelsenkirchener Barock nach sich. Im Gegenteil. Das geht super zusammen mit einem schicken Glastisch und nach Selbstverwirklichung strebendem Innenleben. Die bisherigen CDU-Familienministerinnenkandidatinnen – Katharina Reiche und Ursula von der Leyden – sind solche Fälle: verheiratet, Kinder und – keine Frage! – auch emanzipiert.

Das alles hat aber folgende Auswirkungen: Falls mit einem swcharz-gelben Wahlsieg Veränderungen in diesem Bereich verbunden sind, dann sicher nicht als totaler Richtungswechsel, als absoluter Bruch – schlicht weil es eine totale Richtung sowieso nicht mehr gibt. Und Spaßgesellschaft sowie der Wunsch nach Selbstverwirklichung sind auch dem konservativsten Vorort nicht mehr auszutreiben. Übrigens: Auch linke Lebensentwürfe können ihre konservativen Seiten haben – fragen Sie mal nach dem Musikgeschmack! Die Rolling Stones sind ja so etwas wie die röhrenden Hirsche der Alternativszene.

Die Messer

Die zwei Taschenmesser stehen dafür, dass man inzwischen sowieso auch einen Bildungsroman hinter sich hat. Es war nämlich so, dass ich meinem Sohn zum Geburtstag (Achtung, Vater-Sohn-Klischee) ein Schweizer Taschenmesser geschenkt habe. Als er beim Schwiegervater war, hat er es prompt verloren. Also kaufte ihm der dankbar ein neues Taschenmesser, genau das gleiche, zusätzlich mit seinem Namen eingraviert. Zwei Tage später fand sich das andere Messer wieder, sodass mein Sohn nun zwei hat – eine kleine, erbauliche Parabel über den guten Willen, der heute in Familien herrscht. Gegen solche Familienwerte ist doch gar nichts zu sagen!

Vielleicht kennen viele Menschen, die sich einst von Familien so massiv abgrenzen wollten wie unsereiner, inzwischen ein Äquivalent zu diesen Taschenmessern? Es würde mich nicht wundern. Anfang der Achtzigerjahre waren die Familien jedenfalls noch anders konstruiert als heute: hierarchischer, mit mehr Das-tut-man-nicht und klareren Rollenaufteilungen. Man setze sich einmal in einen Elternabend an einer Grundschule: Wenn man nicht gerade großes Pech hat, wird man dort auf eine so allgemeine Manifestation des guten Willens stoßen, dass das fast auch schon wieder nervt. Der gesellschaftliche Bildungsroman besteht also darin, dass sich inzwischen die Familien geändert haben. Und wer den Familienbegriff Helmut Kohls noch absolut zu setzen vorhat, wird sich ganz schön umgucken. Geistig-moralische Sprüche kann man machen, so viel man will. Gespielt wird sowieso auf dem Platz.

Mit den Begriffen von Vaterland und Nation, dem anderen Kernbereich der damals intendierten Wende, ist das ähnlich: Bei Familienproklamationen muss man nicht gleich das Patriarchat und bei jeder schwarzrotgoldenen Flagge, die irgendwo geschwenkt wird, muss man nicht gleich den Faschismus wittern. Eine ganze Reihe deutsche Rockbands haben in letzter Zeit mit solchen Signalen kokettiert, und – was soll man sagen? Man fand das ein wenig albern, aber einen geschlossenen ideologischen Bewusstseinszusammenhang konnte man nicht ausmachen. Wie auch? Wo dieses Deutschland doch inzwischen gut eingebunden ist in die EU und wir inzwischen sogar gelernt haben, anständig bei Fußball-Europameisterschaften zu verlieren. Dafür haben wir in den weiteren Spielen Tschechien (nein, eben nicht Griechenland!) die Daumen gedrückt.

Die Rechtschreibreform

Jetzt zur Rechtschreibreform, und da, muss ich sagen, gibt es am meisten geistig-moralischen Wendealarm. Das Seltsame an den Reformgegnern war ja nicht, dass sie sich für das alte Regelwerk eingesetzt haben – die alte Kommasetzung hatte, einmal gelernt, viele Schönheiten. Das Seltsame war das seltsame Menschenbild, das hier an allen Ecken und Enden hervortrat. Menschen, die keine klaren Regeln zu befolgen hätten, seien verunsichert, so wurde argumentiert. Auch hatten die Reformgegner etwas von Grund auf Unfreies und Diskursfeindliches. Als ob der Sinn wirklich durch die einzelnen Wörter ein für alle Mal festgelegt würde und nicht durch den Kontext! Und als ob es nicht auch die Möglichkeit der Nachfrage und des Gesprächs gäbe!

Nun waren die Reformgegner aber nicht allein auf konservativer Seite zu finden! Bei dem Hickhack um die Rechtschreibreform wurde deutlich, dass es in unseren Gesellschaft immer noch breite Kreise gibt, die dem Einzelnen im Grunde gar nichts zutrauen außer Regeln befolgen. Hier sind wir am Gegenpol zu den ironischen Spielen mit dem röhrenden Hirschen und den lebensweltlich gelungenen Taschenmesserkäufen. Kann gut sein, dass sich solche antiliberalen Geister von einem Regierungswechsel animiert fühlen werden, gesellschaftlich noch ein bisschen mehr als jetzt schon mitzuspielen.

Die ganze Sache hat aber auch eine hübsche Ironie. Mit Befehlsempfängern konnte man vielleicht noch einen Staat führen, wie Helmut Kohl ihn sich vorstellte. In einem modernen Wirtschaftssystem, wie Merkel, Stoiber und Westerwelle es sich vorstellen, kann man mit solchen Mitarbeitern aber nichts mehr werden. Da sind vielmehr Teamgeist und Eigeninitiative gefragt. Im Zweifel aber wird sich Schwarz-Gelb eher fürs Wirtschaftliche als fürs Moralisch-Geistige entscheiden.

Und was bedeutet das alles? Es würde schon nicht so schlimm werden! Glaube ich zumindest.