Die Gesetze des Schicksals

Glück und Unglück auf der Waage: William Boyds fesselnder Roman „Eines Menschen Herz“

VON GERRIT BARTELS

Aufmerksamen Fans des britischen Schriftstellers William Boyd, die es hierzulande leider viel zu wenige gibt, dürfte es gleich auf den ersten Seiten von „Eines Menschen Herz“ wie Schuppen von den Augen fallen: Dieser Logan Mountstuart, der spielte doch schon mal eine Rolle in einem Buch von Boyd! Das war doch der Schriftsteller, der seinerzeit die Expertisen anfertigte über die Bilder eines amerikanischen Malers namens Nat Tate! Über diesen wiederum hatte William Boyd Ende der Neunzigerjahre eine Biografie geschrieben, die so überzeugend war, so überzeugendes Bildmaterial enthielt und in New York bei einer so überzeugenden Präsentation durch David Bowie vorgestellt wurde, dass zumindest tout New York glaubte, diesen von Boyd erfundenen Maler aus dem Umfeld Jackson Pollocks habe es wirklich gegeben.

Viel leichter zu durchschauen ist „Eines Menschen Herz“, auch wenn Boyd sich wieder Mühe gibt, das Leben seines Helden durch echte wie erfundene Fakten zu stützen. Schon auf der ersten Seite, da nicht nur Mountstuart sich vorstellt, sondern zugleich das Konzept dieses Tagebuchromans in Form von „Vorbemerkungen zu den Tagebüchern“ vorgestellt wird, fügt Boyd in einer Fußnote an: „Diese Vorbemerkung wurde wahrscheinlich 1986 verfasst (s. S. 473).“ So ein Einstieg lehrt das Fürchten (au Backe, was kommt da wohl wieder?!), doch das Schöne ist, dass Boyd sich zurückhält und Literatur, Sekundärliteratur und Wirklichkeit ganz unaufdringlich miteinander verwirbelt. Er begnügt sich mit meist überflüssigen Fußnoten, einem ebenfalls nicht weiter störenden Register und füllt ansonsten als allwissender Erzähler die Lücken zwischen Logan Mountstuarts Tagebüchern mit ein paar notwendigen Überbrückungs-Informationen auf.

Man kann sich also entspannt auf das lange, bewegte und fast das gesamte letzte Jahrhundert umfassende Leben von Logan Mountstuart einlassen. Nach typisch britischen Schul- und Studienjahren und typischen Lehrjahren des Gefühls erlangt der 1906 geborene Logan erstmals Berühmtheit in literarischen Kreisen, als er 1930 in London eine brillante Shelley-Biografie vorlegt. Kurz darauf hat er mit einer Art Boulevard-Roman kommerziellen Erfolg, schließt danach aber eine schwierige, unverkäufliche Studie über einen kleinen Kreis französischer Schriftsteller an. Es entwickelt sich die Geschichte eines Mannes, der sein Berufsleben eher verbummelt als zupackend bestimmt, der heiratet, sich trennt und wieder heiratet; der Spion wird und erlebt, wie der Zweite Weltkrieg sein Leben in zwei Teile zerlegt: Als seine zweite Frau und seine Tochter bei einem deutschen Raketenangriff sterben, muss Logan von vorn anfangen, und aus dem kleinen Angeber und Illusionisten, der Gott und die Welt kennen gelernt hat, unter anderem Joyce, Virginia Woolf und Hemingway, dem das meiste mehr zufällt, als dass er es sich erarbeitet, wird ein gebrochen-zweifelnder Melancholiker, der sich immer wieder aufzurappeln weiß.

Das Tolle an „Eines Menschen Herz“ ist, wie Boyd aus der kunstlosen Tagebuch-Prosaform einen großartigen Lebensroman entstehen lässt; wie er den Stakkato- und Infostil eines Tagebuchs mit samt dessen vielen Nebensächlichkeiten perfekt imitiert und das Ganze sich trotzdem flüssig und spannend liest. Das liegt an Logans vielen Abenteuern, aber eben auch daran, dass seine Geschichte zunehmend zu Herzen geht. Natürlich hat Logans Leben viel Konstruiertes an sich, muss es eine Menge aus den unterschiedlichen Epochen des 20. Jahrhunderts mit repräsentieren: das Paris der Zwanzigerjahre, den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg, die Kunstszene um Jackson Pollock im New York der Fünfzigerjahre, den Terrorismus der Siebzigerjahre. Und natürlich spielt Boyd erneut sein ureigenes Lebens- und Literaturspiel, gerade in den Passagen des Zusammentreffens von Logan und Nat Tate. Klar, dass er sich da selbst einbringt mit einer Fußnote über die Tate-Biografie: „Für eine ausführlichere Darstellung des Lebens von Nat Tate siehe ‚Nat Tate. An American Artist von William Boyd (21 Publishing, 1998)‘.“

Aber diese Spiegelfechtereien, diese Spiele mit Wahrheit und Fälschung, gehören nun einmal zu Boyds Poetologie, und sie durchziehen auch das Leben Logans und seiner Umgebung: Sei es, dass er und seine Schulfreunde sich „Herausforderungen“ stellen, um das öde Schulleben zu ertragen (einer der drei etwa tut so, als konvertiere er vom Judentum zum Katholizismus). Sei es, dass ein Anarchist im Spanischen Bürgerkrieg sich als Anhänger Francos herausstellt, auch wenn das nie ganz deutlich wird. Sei es Logans Dasein als Spion (Ian Fleming hat ihn angeheuert!).

Trotz alledem, und das macht „Eines Menschen Herz“ so fesselnd und bewegend, steht immer Logans Tragik im Zentrum dieses Romans, seine mehr Abs als Aufs im Leben, sein Glück und sein Unglück, was ihn alles schließlich zu einem regelrechten Weisen werden lässt. So räsoniert er, da er einen schönen, geruhsamen Lebensabend in der französischen Provinz verbringt (allerdings entlarvt er auch hier einen Résistance-Kämpfer unfreiwillig als Lügner): „Das ist alles, was das Leben ausmacht: die Gesamtheit des Glücks und des Unglücks, das einem widerfährt. Diese einfache Formel erklärt alles. Summiere Glück und Unglück, und wiege es gegeneinander auf. Du hast keinen Einfluss darauf: Niemand teilt es aus, schiebt es diesem oder jenem zu, es passiert einfach. Wir müssen die Gesetze des menschlichen Schicksals stumm erleiden, wie Montaigne sagt.“

William Boyd: „Eines Menschen Herz“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Hanser Verlag, München 2005, 512 Seiten, 24,90 Euro