„Estoy embarazada“

Die Anakonda im Eisenbahnabteil bewegt sich so schnell, dass du nicht erkennen kannst, wo sie anfängt und wo sie aufhört. „Was für ein kranker Traum“, sagt Rhabarber, als du ihm am Morgen davon erzählst

VON FLORIAN WERNER

In der Nacht davor hast du einen Traum. Ihr seid mit der Eisenbahn unterwegs, irgendwo auf der kastilischen Hochebene. Das Abteil, in dem ihr sitzt, ist eng, die Bänke sind aus dunklem Holz, so als stamme der Zug noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Jedenfalls ist er sehr viel älter als der Zug, mit dem ihr gestern nach Madrid gekommen seid, und während der ganzen Fahrt hat Rhabarber wahllos Übungssätze aus einem Sprachlehrbuch vorgelesen, das er vor eurer Abreise auf dem Grabbeltisch eines Supermarkts gefunden hat: „¿Tiene algún problema?“ – „Creo que estoy embarazada.“ – „Entonces, vaya usted al ginecólogo.“

Es ist heiß in deinem Traum, der Stoff deines T-Shirts klebt mal an deiner Haut, mal an der Rückenlehne des Sitzes, du hast das unbestimmte Gefühl, dass du allmählich zu einem Teil dieser Sitzbank wirst oder die Bank zu einem Teil von dir. Ein Quietschen von Bremsen, der Geruch von Öl und erhitztem Metall, der Zug hält auf offener Strecke. Die Abteiltür öffnet sich, sie führt direkt ins Freie, ein Schwall heißer Luft ergießt sich ins Wageninnere. Du willst aufstehen, die Tür schließen, aber du kannst dich nicht von deinem Platz erheben. In diesem Moment siehst du die Schlange. Es ist eine Anakonda, das weißt du sofort, obwohl du noch nie eine gesehen hast. Sie gleitet durch die offene Tür ins Abteil, kriecht an der Wand empor bis zum Gepäckbord, das sich an allen vier Wänden entlangzieht; ein Pfiff ertönt, die Tür schließt sich wieder, und die Anakonda beginnt, im Uhrzeigersinn an der Gepäckablage entlangzukriechen. Bald erstreckt sich ihr Körper über alle vier Winkel des Raumes, sie bewegt sich sehr schnell, sodass du nicht erkennen kannst, wo sie anfängt und wo sie aufhört, du weißt nur, dass sie darauf aus ist, jemanden zu fressen.

Ein älterer Herr, den du bisher noch nicht bemerkt hast, lächelt dir beruhigend zu. Er trägt einen Anzug aus schmutzig weißem Leinen, einen grauen Vollbart und einen Tropenhelm: Er sieht aus wie jemand, der sich mit menschenfressenden Riesenschlangen auskennen könnte. Er greift behutsam in seine Reisetasche, die neben ihm auf dem Boden steht. Er holt ein Buch heraus, einen dicken, in schwarzes Leder gebundenen Wälzer mit Goldschnitt und einem Kreuz auf der Vorderseite. Er packt es mit beiden Händen, steht auf und geht langsam auf die Gepäckablage zu. Er betrachtet die Schlange. Dann hebt er blitzartig das Buch in die Höhe und schlägt mit einer schnellen Bewegung zu. Du hörst das Bersten von Knochen; der Körper der Schlange fällt schwer auf den Abteilboden. Der Fremde klemmt sich die Bibel unter den Arm, zieht ein Taschentuch hervor, lüftet seinen Tropenhelm und trocknet sich die Stirn ab. Du willst dich bei ihm bedanken, ihm sagen, dass er euch gerettet hat. Da siehst du seine Hörner, zwei kleine, schwarze Stummel, die zwischen den schlohweißen Haaren hervorragen.

Was für ein kranker Traum“, sagt Rhabarber, als du ihm am nächsten Morgen davon erzählst. „¿Tiene algún problema?“ – „Ich weiß nicht, ob ‚Problem‘ das richtige Wort ist. Aber wenn, dann hast du auch eins.“ – „Lass mich raten: Du hast die Sündhaftigkeit unserer Verbindung erkannt und überlegst dir nun, ins Kloster einzutreten.“ – „Leider falsch. Du hast noch zwei Versuche.“ – „Noch zwei Versuchungen?“ Rhabarber hebt die Augen zur Zimmerdecke. „Herr, gib mir die Kraft, zu widerstehen.“ Er zieht dich vom Waschbecken weg und aufs Hotelbett. – „Lass uns lieber frühstücken gehen.“ – „Probier mal von diesem rotwangigen Apfel.“ Er hält dir seine sonnenverbrannte rechte Backe hin, „du wirst erkennen: Wir sind beide nackt.“ – „Du vielleicht, ich bin fertig angezogen.“

Als Rhabarber weiterhin versucht, dich, wie er es nennt, in den Urzustand zurückzuversetzen, schimpfst du ihn eine Strafe Gottes, weshalb ihm dann doch noch eine andere Interpretation einfällt. Er habe gestern, als du schon schliefst, ein Erweckungserlebnis gehabt, gesteht er, öffnet die Schublade des Nachtkästchens und zieht ein abgegriffenes Taschenbuch heraus. „Sogar die Gideons haben mitbekommen, dass hier nur Deutsche absteigen“, sagt er und beginnt, in der Hotelbibel zu blättern. Nach ein paar Seiten hält er inne und deklamiert mit drohender Stimme: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.“ Diesen letzten Halbsatz wiederholt er ein paarmal, während er das Buch beiseite legt und sich wieder am obersten Knopf deiner Hose zu schaffen macht: „Ich bin dein Herr, verstehst du? Du musst mir gehorchen“, und er gibt sich redlich mühe, das ironisch klingen zu lassen; aber als du ihn darauf hinweist, dass er, wenn überhaupt, erst dann dein Herr wäre, wenn du ihm mit Schmerzen Kinder geboren hättest, ist er ernsthaft beleidigt und sagt nur: „Entonces, vaya usted al ginecólogo.“

Weil das jedoch nur ein Übungssatz aus einem drittklassigen Spanischlehrbuch ist, geht ihr doch lieber frühstücken, Tostadas und Anchovis und gebackene Paprika, wie jeden Morgen trinkt er dazu Rotwein, und wie immer beschwert er sich, dass du nur Tee trinkst und damit auf unverantwortliche Weise Geschlechterklischees bedienst: Mann trinkt, Frau ist abstinent, da dürften die Frauen sich natürlich nicht wundern.

Und weil ihr schon beim Verfestigen von Stereotypen seid, klappert ihr nach dem Frühstück gleich noch das Standardprogramm ab: die Plaza Mayor, die Puerta del Sol, die kleine Plakette am Südende des Platzes, von der aus die Entfernungsangaben aller spanischen Straßen zur Hauptstadt gemessen werden, und zu allen Sehenswürdigkeiten sagt er: „Me alegro mucho de veros“ – Ich freue mich sehr, Sie zu treffen. „Willst du uns nicht bekannt machen?“ – „El centro de España“, er zeigt auf die Plakette mit dem Nullpunkt, dann legt er den Arm um dich, deutet auf die Umgebung deines Bauchnabels und sagt: „El centro del mundo.“ Und weil das so wunderbar zu eurem Klischeetag passt und weil solche Komplimente zwar nicht deinen Mittelpunkt, aber doch eine empfängliche Stelle bei dir berühren, schlendert ihr Arm in Arm weiter, die Carrera de San Jerónimo hinunter, am Plaza de Neptuno vorbei, und trefft so auf das Museo del Prado.

Im Prado interessieren Rhabarber nur Werke, die seiner Meinung nach im Suff oder unter Drogeneinfluss entstanden sein müssen, vor allem die von Hieronymus Bosch. „Der hatte auch so eine kranke Fantasie wie du“, begründet er seine Wahl und verbringt eine halbe Stunde vor dem Garten der Lüste auf der Suche nach einer Anakonda, entdeckt aber nur eine Herde Einhörner, ein Schnabeltier auf Schlittschuhen und ein Wildschwein, das Tollkirschen kackt. Ihr geht weiter, an der Nackten und der Bekleideten Maja vorbei, zu Goyas frühen Gemälden, ausladenden, lebensfrohen Panoramen, auf denen glückliches Landvolk durch arkadische Landschaften tobt, dann, im zweiten Stock, zu den späteren Werken, den Wandmalereien, mit denen Goya sein Altersdomizil ausgestaltet hat: Dieselbe Landschaft, die gleichen Hügel, nur ist der Himmel jetzt dunkel und wolkenverhangen, die Felder sind verwüstet von den Napoleonischen Kriegen und die Menschen von Trunksucht und Niedertracht gezeichnete Idioten.

Und dann, in einer Ecke des Raumes, siehst du Ihn: einen Dämon. Den Teufel. Den Gott, der zu diesen Menschen zu passen scheint. „Saturno Devorando a Su Hijo“ steht auf dem Schildchen neben dem Bild: Saturn, der einen seiner Söhne verschlingt. Das Erste, was dir auffällt, sind die makellos weißen Schultern des Knaben, der hellste und unschuldigste Fleck auf diesem Gemälde. Doch aus dem Hals darüber sprudelt schon das Blut. Der Vater hat seinem Sohn den Kopf abgebissen, das Blut ergießt sich über die Hände, mit denen er den winzigen Torso umklammert hält. Das Haar fällt wirr über Saturns behaarte Schultern, sein Mund ist aufgerissen, er ist ein ungeschlachtes Monster, ein Mörder, doch in seinem Blick ist nichts als nackte Angst. Beinahe könntest du Mitleid mit ihm bekommen, er schaut dir direkt in die Augen, seine linke Braue zieht sich entschuldigend nach oben, fast als sei ihm diese Szene peinlich, als sei er nicht ein Gott, sondern nur ein verwirrter Greis, den man beim Naschen in der Speisekammer erwischt hat. „Mahlzeit“, hörst du Rhabarbers Stimme neben dir. „Jeden Bissen zwanzigmal kauen.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ – „Ich will wieder zurück zu der nackigen Maja. Mit Frauen kenn ich mich aus, da weiß ich wenigstens, worum es geht.“ – „Ach ja?“ – „Was soll dieser Splatterschund hier überhaupt darstellen?“ – „Darf ich vorstellen? Saturn. So weit ich mich erinnere, hat er seinem Vater, dem Obergott Uranus, die Hoden abgeschnitten, um an dessen Stelle zu herrschen. Klar, ein Gott ohne Eier hat in einer Männergesellschaft wie dem Olymp nichts zu sagen. Aber als Saturn schließlich selber Herrscher der Welt war, bekam er es mit der Angst zu tun: Er fürchtete, dass ihm das gleiche Schicksal drohen könnte wie seinem Vater. Und um das zu vermeiden, fraß er alle seine Kinder nach der Geburt auf.“ – „Querida!“, Rhabarber schüttelt den Kopf und ergreift deine Hand: „Was liest du nur immer für abartiges Zeug? Dann darfst du dich nicht wundern, wenn du nachts Albträume hast.“ – „Liebling“, du ziehst deine Hand aus seiner Umklammerung und legst sie ihm um die Hüften, „das ist kein abartiges Zeug, sondern meine profunde humanistische Bildung. Und was den Albtraum von heute Nacht angeht: Darüber hab ich noch mal nachgedacht. Ich glaube nicht, dass ich den hatte, weil ich Schundliteratur wie Hesiod oder die Bibel gelesen habe. Sondern weil meine innere Stimme mir etwas sagen will.“

Rhabarber betrachtet interessiert das Goya-Gemälde. „Und“, fragt er, „was erzählt deine innere Stimme dir so, wenn die Nacht lang ist?“ Du holst tief Luft. „Ich glaube, du lagst mit deiner letzten Interpretation vielleicht doch nicht ganz falsch.“ – „Hm.“ Rhabarber studiert die blutige Masse, die aus Saturns schwarzer Mundhöhle ragt. „Ich komm nicht drauf.“ – „Nur mal hypothetisch: Wenn du Vater wärst, würdest du deine Kinder doch besser behandeln als dieses alte Scheusal, oder?“ Rhabarber betrachtet weiterhin den Mund des Gottes, geht näher heran, beugt sich vor, als wolle er darin verschwinden. „Weißt du“, sagt er schließlich, „als du das eben erzählt hast, hab ich zuerst gedacht, das sei nur erfunden. Oder wenigstens schon lange vorbei. Dabei gibt es das immer noch.“ – „Was? Eltern? Kinder? Scheusale?“ – „Väter, die ihre Söhne essen. In gewissem Sinn zumindest. Zwar werden die brüllenden Blagen nicht mehr am Stück verspeist. Aber viele Leute, Menschen wie du und ich, die essen das, was hinterher rauskommt. Dieses Organ, wo die Nabelschnur dranhängt.“ – „Plazenta.“ – „La placenta“, bestätigt er, „genau. Ich hab da neulich einen alten Zeitungsartikel gefunden, in dem ging es um verschiedene Rituale, darum, was Väter nach der Geburt mit diesem Ding alles anstellen. In Afrika, glaube ich, legen sie es in ein Einmachglas, stellen es zu Hause ins Küchenregal und verehren es als ‚toten Zwilling‘. Kann man machen, solange man noch weiß, welches das Glas mit den eingelegten Aprikosenhälften ist. Aber dann gibt es Leute, hier bei uns in Europa, die das gute Stück tatsächlich essen. In England zum Beispiel, da hat ein Vater zur Feier der Geburt seines Sohnes die Plazenta mit Olivenöl und Knoblauch angebraten, im Mixer püriert und dann der Verwandtschaft auf Focaccia-Brot serviert. Schmeckt wie Leber, stand im Artikel. Im Infokasten daneben war sogar das Rezept abgedruckt. Futtern wie bei Muttern … Eh, guapa“, ruft Rhabarber dir hinterher. „Was ist los?“

Du rennst an Goyas Hexensabbat vorbei, vorbei an Judith und Holofernes, durch die Tür mit der Aufschrift Señoras, und während du dich ins Waschbecken übergibst, hörst du Rhabarbers Stimme durch die geschlossene Tür. Dass es ihm leid tue. Dass er das nicht gewollt habe. Er habe ja nicht ahnen können, dass du so einen empfindlichen Magen hast, wo du doch sonst so hart im Nehmen seist, schließlich hättest du angefangen mit der ganzen Kannibalismusgeschichte.

So redet er weiter und weiter, und eine halbe Stunde später im Hotel, während du deine Sachen packst, redet er immer noch. Dass das ja wohl nicht dein Ernst sein könne. Ob du gerade deine Tage hättest? Als du mit dem Koffer in der Hand das Zimmer verlässt, läuft er dir hinterher, und zum ersten Mal seit langem macht er dir Komplimente, die nicht nach Vokabeln klingen, aber du antwortest ihm nicht, und als ihr die Halle des Bahnhofs Chamartín betretet, hörst du ihm auch nicht mehr zu. Und als du schließlich hinter der Abteiltür stehst und der Pfiff zur Abfahrt ertönt, hörst du ihn gar nicht mehr, siehst nur noch seine Zähne, den Mund, der irgendwelche Worte formt. Der Zug fährt an, Rhabarber fasst in seine Tasche, holt weit aus, und das Wörterbuch fliegt mit einem dumpfen Schlag gegen die Scheibe.

FLORIAN WERNER, geboren 1971, ist freier Autor sowie Texter und Musiker der Gruppe Fön. Seine Erzählung entnehmen wir seinem vor kurzem bei dtv Premium erschienenen Band „Wir sprechen uns noch“ (160 Seiten, 14 Euro)