Ich, ich und ich

Psychogramm des faschistischen Menschen: Oliver Reese ließ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Joseph Goebbels mit sich reden

Die Inszenierung entgeht ihrer größten Gefahr: der Authentizitätsfalle

VON DIETMAR KAMMERER

Einem Lügner die Wahrheit ablauschen: Für „Goebbels“, das am Samstag in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin Premiere hatte, hat Regisseur Oliver Reese ausschließlich aus den Tagebucheintragungen und Reden des Propagandaministers des Dritten Reiches einen Theatertext destilliert.

„Schreibwut. Es ist mir als müsste ich beichten gehen. Ich will mir das letzte von meiner Seele herunterschreiben.“ So lauten die ersten Eintragung vom Herbst 1923 im Tagebuch des Dr. Joseph Goebbels, zu diesem Zeitpunkt ein verhinderter Kunstkritiker und frustrierter Exbankangestellter, der mit dem Nationalsozialismus bislang nur aus der Ferne sympathisiert hatte.

Damit beginnt das „Selbstpalaver“ des späteren Reichspropagandaministers, das dieser die folgenden zweiundzwanzig Jahre bis wenige Stunden vor seinem Selbstmord im Bunker unter Berlin mit sich und der Nachwelt führen wird. Die meisten Teile dieser „Beichte“ wurden in Archivarbeit ausfindig gemacht und publiziert. Wir haben sie also zur Verfügung, die „authentische Stimme“ des Mannes aus dem inneren Zirkel der Macht, die ständig log.

Bloß, wie soll das zusammengehen? Die absolute Selbstdarstellung eines Machtmenschen, der wie kein anderer in seiner Zeit die Kraft der Blendung durch Worte auszunutzen gelernt hatte – und die Vorstellung, ihn in seinen Worten einmal ganz bei sich selbst erwischen zu können? Im Widerspruch des Wunsches, Goebbels einmal „privat“ zu erleben, liegt gerade die Herausforderung.

Zuletzt hat sich Lutz Hachmeister an einer filmischen Umsetzung dieser Stimme versucht und ließ im „Goebbels-Experiment“ unkommentierte Auszüge aus den Tagebüchern verlesen, illustriert durch historische Aufnahmen aus der NS-Zeit. Der Versuch, das Dritte Reich zu personalisieren, ihm sozusagen in „perfekter Umklammerung“ (Georg Seeßlen) seine Wahrheiten abzupressen, macht dieser Tage bekanntlich den Mainstream der „Aufarbeitung“ aus. Das verführerische Böse sich selbst entlarven zu lassen, es durch bloßes Ausstellen transparent zu machen für die ihm innewohnende Gewalt seiner Sprache, ist selbst verführerisch und birgt eine Gefahr: dass über dem Persönlichen das Politische vergessen wird.

Die Kammerspiel-Inszenierung lässt erst gar keinen Raum für „Persönliches“. Die Bühne ist als antikisierender Halbkreis gestaltet, meistens klinisch hell ausgeleuchtet, mit Türen in jede Richtung. Vielleicht das Innere eines Totenschädels. Selbst die Walzerklänge, die ab und zu ertönen, machen diesen Ort nicht bewohnbar: Ihre erstarrte Nostalgie und perfekte Kreisbewegung lässt das Interieur noch kälter wirken.

Hier lässt Regisseur Reese Goebbels mit sich selbst Gespräche führen, und zwar im eigentlichen Sinne: Reese hat seine Figur weniger analysiert als zerlegt und lässt Goebbels nicht von einem, sondern von gleich vier Darstellern auf die Bühne bringen. Der Effekt ist verblüffend. Der oberste Propagandist sagt so oft „ich, ich, ich“ in seinen Tagebüchern, dass Reese vermutlich nicht umhin konnte, ihn beim Wort zu nehmen und als mehrere Ichs zu inszenieren: einen selbstmitleidigen Zweifler, einen sich selbst radikalisierenden Fanatiker, einen zynischen Machtmenschen mit Rachegelüsten und einen, der bis zuletzt den „Führer“ verehrt, dessen Kult er selbst geschaffen hat. Und noch viele mehr.

Das verführerische Böse sich selbst entlarven zu lassen ist verführerisch

Wenn zudem jeder der Schauspieler mit eigenem Sprechstil, eigener Gestik arbeitet, entgeht die Inszenierung ihrer größten Gefahr: der Authentizitätsfalle, dem Wunsch, den „wahren“ Goebbels ausfindig machen zu wollen.

Was Reese vorführt, ist weniger das Porträt einer konkreten historischen Person als das Psychogramm des faschistischen Menschen, und die treten ja grundsätzlich in Kollektiven auf.

Deutlich wird, wie der Faschismus und seine Propaganda sich beständig an der Brutalisierung der eigenen Rhetorik entzünden muss, will er nicht in Orientierungslosigkeit, Langeweile und Selbstzweifel zurückfallen. „Mein Fuß ist geschwollen“, das ist der eine Satz, der immer wieder auftaucht, der die Klammer des Stücks bildet. Der andere lautet, in gewollt rhetorischer Pose: „Heute ist das Radikalste eben radikal, das Totale eben total genug.“

Zwischen diesen Extremen entfaltet ein spielfreudiges und durchweg überzeugendes Ensemble, quasi als späte Genugtuung, die Demontage desjenigen Mannes, der nach Amtsantritt 1933 als erste Amtshandlung die „Gleichschaltung“ der Kulturlandschaft durchführte, Max Reinhardt aus dem Deutschen Theater verjagte und sich später bedenkenlos als „Mäzen der Künste“ feiern ließ.