Die UN brauchen einen Mittelweg

Die Länder des Südens sehen sich durch Kofi Annans Reformvorschläge missachtet. Der Sicherheitsrat darf nicht allein über Krieg und Frieden entscheiden

Die UN-Generalversammlung muss ein effektiverer Partner des Sicherheitsrates werden

Mit den Reformen wächst die Kluft in den UN. Der Kontrast zwischen den Entwicklungsländern im Süden und den Industrienationen im Norden ist stärker denn je – die Zukunft der Vereinten Nationen ist ungewiss. Doch vielleicht gibt es noch eine Kompromisslösung, um die sich verhärtenden Fronten aufzuweichen. Der jüngste Bericht des UN-Generalsekretärs Kofi Annan mit dem Titel „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ enthält Vorschläge für wesentliche Veränderungen der Arbeits- und Funktionsweise der UN. Sie zielen darauf ab, die Organisation effizienter zu gestalten, damit sie sich den veränderten Ansprüchen und Herausforderungen des neuen Jahrhunderts stellen kann.

Annan lenkt in seinem Konzept – neben institutionellen Reformvorschlägen – die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen (Unter-)Entwicklung und Sicherheit. Gleichzeitig wiederholt er die in der UN-Millenniumserklärung aufgeführten Ziele. Er fordert die internationale Gemeinschaft auf, die Armut zu bekämpfen, indem sie die armen Nationen durch Öffnung der Märkte, finanzielle Hilfen, Schuldenentlastung und Technologietransfer unterstützt.

Kofi Annans Bericht, der zurzeit in der Generalversammlung debattiert wird, beruht auf einem früheren Bericht einer handverlesenen „Hochrangigen Gruppe“. Sie hatte die Notwendigkeit hervorgehoben, den weltweiten Bedrohungen und Herausforderungen durch multilaterale Anstrengungen zu begegnen. Der Sicherheitsbegriff wird hier weiter gefasst als bisher und schließt die Sicherheit von Menschen, Wirtschaft und Umwelt ein. Darüber hinaus enthält der Bericht eine Mehrvariablenanalyse über die verschiedenen Ursachen der weltweiten Unsicherheit und nimmt die Zusammenhänge zwischen den traditionellen Konflikten zwischen Staaten und den neuen Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus, dem organisierten Verbrechen und der Aids-Epidemie in den Blick.

Der Bericht der „Hochrangigen Gruppe“ wurde von der Bewegung der Nichtpaktgebundenen (NAM), in der sich etwa 116 Drittweltländer zusammengeschlossen haben, verrissen: Er sei nordzentristisch, mache Wirtschaftspolitik zu einer Sicherheitsfrage und übergehe die Generalversammlung, weil er neue Befugnisse für den Sicherheitsrat vorschlägt. Außerdem hält die NAM den Bericht als übermäßig durch die Weltanschauung der US-Regierung beeinflusst, weil er die Doktrin des „Präventivkrieges“ als irgendwie doch mit der UN-Charta vereinbar darstelle. Sehr zum Verdruss der NAM-Vertreter schenkte Annan ihren Ausführungen keine Beachtung.

Demgegenüber haben sowohl Vertreter der EU als auch der USA, Kanadas und Australiens die von Annan unterstützten Vorschläge der Hochrangigen Gruppe begrüßt. Sollten Annans Empfehlungen im Herbst auf der Sitzung der Generalversammlung angenommen werden, ist mit einer qualitativen Verschärfung der Nord-Süd-Polarisierung der UN zu rechnen.

Bereits zu Beginn der in New York laufenden, auf Monate angesetzten Konferenz zur Revision des Atomwaffensperrvertrages wird dies deutlich. Dort wollen die NAM-Länder – die größtenteils nicht über Nuklearwaffen verfügen – die Definition der Nichtverbreitung dahingehend erweitern, dass sie auch die Entwaffnung der Besitzer von Atomwaffen einschließt.

Der Norden favorisiert dagegen eine enger gefasste Interpretation des Begriffs „Verbreitung“, wie sowohl im Bericht der Hochrangigen Gruppe als auch in Annans eigenem Bericht deutlich wird. Demnach sollte der Transfer von Atomtechnologie mit neuen und strengeren Restriktionen belegt werden.

Die „Nichtverbreitung“ soll auch die Entwaffnung von Atommächten einschließen

Aus Sicht der NAM lenken der 11. September 2001 und die daraus entstandenen Folgen, insbesondere die illegale Besetzung des Iraks dazu, unsere Aufmerksamkeit für die instabile weltpolitische Lage in eine bestimmte Richtung. Damit sind auch die UN konfrontiert. Wenn es ihnen nicht gelingt, zur Verhinderung von Kriegen wirksamere Mechanismen zu schaffen, läuft sie aus NAM-Perspektive Gefahr, ihre Legitimation als wirksames Kontrollgremium für den uneingeschränkten Militarismus von Großmächten zu verlieren.

Die Länder des Südens nehmen einen Angriff auf ihre souveränen Rechte wahr und sorgen sich verstärkt um ihre politische Unabhängigkeit, sodass sie nach Möglichkeiten zum Schutz vor Übergriffen suchen. In einer solchen Zeit kann man von ihnen keine Akzeptanz dafür verlangen, dass Annan das Recht zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Mitgliedstaaten vertrauensvoll an den Sicherheitsrat delegiert hat und dies auch noch eine „humanitäre Intervention“ nennt beziehungsweise mit einer ähnlichen Neuschöpfung als „Verantwortung zu schützen“ bezeichnet.

Damit will ich nicht unbedingt die pauschale Ablehnung des Prinzips der humanitären Intervention durch die NAM unterstützen, was eine Rückkehr zu der unstrukturierten Dritte-Welt-Politik der 1960er- und 1970er-Jahre wäre. Vielmehr müssen die NAM und die Entwicklungsländer insgesamt echte Alternativen für die Lösung der brennenden Fragen zu Frieden und Konflikten vorlegen, wenn sie eine stärkere Beteiligung an der Weltpolitik erreichen wollen.

So könnte die NAM zum Beispiel vorschlagen, einem mit dem Sicherheitsrat zusammenarbeitenden Unterorgan der Generalversammlung die Verantwortung zu übertragen, wenn es um eine angemessenere Reaktion auf Völkermord geht. Derartige Vorschläge sind auch deshalb wichtig, weil eine unabdingbare Voraussetzung für die Erneuerung der UN-Organisation darin besteht, kreative Praktiken zur Steuerung der Zusammenarbeit von Sicherheitsrat und Generalversammlung zu entwickeln. Ziel dabei müsste sein, dass die Generalversammlung bei der Behandlung von Fragen zu Krieg und Frieden die Rolle eines effektiveren Partners des Sicherheitsrates erhielte. Dies ist insbesondere dann zentral, wenn es um das sensible Thema geht, wann und wie man sich in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates einmischt.

Es wäre vorstellbar, dass sich das vorgeschlagene Unterorgan der Generalversammlung auf die Verhinderung von Völkermord und die Erarbeitung eines Frühwarnsystems für Völkermord und ähnliche Grausamkeiten konzentriert.

Kofi Annan hat gesagt, die UN stehen an einer „Weggabelung“. Der hier vorgeschlagene Mittelweg kann hoffentlich dafür sorgen, dass die UN nicht weiter auseinander gezerrt werden durch die in verschiedene Richtungen laufenden Wege des Nordens und des Südens.

Die Bewegung der Nichtpaktgebundenen hält die Reformideen für nord-zentristisch

KAVEH L. AFRASIABI

aus dem Englischen von Beate Staib