„Die Europäische Union wird bedeutungslos“

Für Siemens ist das französische Non zur EU-Verfassung ein großer Erfolg, sagt der Medienwissenschaftler Peter Glotz. Für die Bevölkerung Europas ist das Ergebnis furchtbar: Eine gemeinsame Sozialpolitik wird es nun nicht geben

taz: Herr Glotz, ist mit dem „Non“ der Franzosen zur EU-Verfassung auch die deutsch-französische Achse zerbrochen?

Peter Glotz: Nein, Deutschland und Frankreich haben auch außerhalb Europas noch immer gemeinsame Interessen, und sie werden auch das EU-Projekt gemeinsam weiter verfolgen.

Wie muss die EU auf dieses Ergebnis reagieren?

Sie reagiert jetzt erst mal mit diesem üblichen Gerede: „Wir haben uns immer am Schopf aus dem Sumpf gezogen.“ Das müssen Herr Verheugen und Herr Solana wohl sagen, aber es ist Unsinn. Früher hatten wir eben nicht Staaten wie Tschechien oder Polen, die im Kern eine sehr wackelige Demokratie haben und deren tragende Figuren antieuropäisch, jedenfalls gegen eine Vertiefung der EU sind. Die Lage ist viel schwieriger als jemals zuvor.

Muss der Verfassungstext überarbeitet werden?

Nein, das geht gar nicht, und die Verfassung wird auch nicht besser, wenn man noch mal einen Konvent beruft. Schauen Sie sich mal die französischen Verfassungsgegner an: Die 55 Prozent setzen sich zusammen aus Leuten, die generell gegen Europa und für ein großes Frankreich sind. Die Linken sind dagegen, weil die Verfassung nicht schön genug ist – das ist eine Mischung, auf die man nicht eingehen kann.

Was passiert denn jetzt mit der Verfassung?

Richtig finde ich, dass man jetzt erst einmal alle Abstimmungen laufen lässt. Ich vermute, es werden fünf bis sechs Staaten ablehnen. Dann muss man neu entscheiden, was man tun kann. Eine Union der 25 unter dem Regime des Vertrages von Nizza kann man vergessen. Die Tatsache, dass man die EU erweitert hat, ohne sie vorher zu vertiefen, war ein katastrophaler Fehler. Es muss überlegt werden, ob die Kernstaaten der EU, wie Frankreich, noch mal abstimmen. In Irland ist das ja auch passiert. Staaten, die die Verfassung ablehnen, müssen dann eben raus aus der EU und in einem europäischen Wirtschaftsraum bleiben. Diese Entscheidung müssen die Staatschefs irgendwann treffen.

Zeigt das Ergebnis, dass die EU als Projekt der politischen Eliten gescheitert ist?

Europa war in den Anfängen durchaus nicht nur ein Projekt der Eliten. Auch in den 80er-Jahren, als wir die Friedensbewegung hatten, gab es Volksmassen, die für Europa eintraten, dann war es wieder nur die politische Elite, die sich darum kümmerte. Zudem gibt es unterschiedliche Traditionen – in Deutschland hat man das Volk nie an das Thema herangelassen, in Frankreich immer. Die Euro-Abstimmung hat Mitterrand gewonnen.

Ist die EU jetzt noch handlungsfähig?

Nein, ist sie nicht.

Was bedeutet das?

Die Parlamentarisierung findet nicht statt, das Europäische Parlament bleibt ein Ornament. Es bedeutet zweitens, dass weiterhin Einstimmigkeitsprinzip herrscht, man kann also nicht mit Mehrheiten abstimmen. Das heißt, Lettland oder Malta können den ganzen Prozess blockieren, wie Griechenland das früher häufig getan und sich dann Finanzzusagen rausgehandelt hat. Und es bedeutet, dass es beim Regime des Rates bleibt und damit bei einem überaus schwerfälligen Prinzip. Sie müssen immer die Regierungschefs zusammenrufen, und die müssen einstimmig abstimmen.

Läuft denn das Alltagsgeschäft weiter?

Natürlich, und die EU wird noch bestehen, bis unsere Enkel graue Bärte haben. Bevor sich solche Gremien, in denen tausende Menschen hohe Gehälter beziehen und in denen es 25 Kommissare gibt, selbst auflösen, das dauert Jahrzehnte. Die EU bleibt also bestehen, aber sie wird nichts mehr bedeuten.

Sie wird international an Bedeutung verlieren?

International sowieso. Herr Bush wird sich für seine nächsten Kriege ein paar Tschechen, Polen oder Portugiesen suchen, und dann herrscht die Koalition der Willigen. Aber auch innerhalb Europas wird nicht die Kraft entstehen, eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und auch Sozialpolitik durchzusetzen.

Das ist ein Rückfall in die Nationalstaaterei. Jeder wird es so machen, wie es ihm gerade passt. Für Siemens ist das hervorragend, für die europäische Bevölkerung allerdings furchtbar.

Was bedeutet das für den Erweiterungsprozess?

Ich hoffe, der ist jetzt beendet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierungschefs die Debatte jetzt auch noch mit der Türkei belasten wollen. Vielleicht beginnen noch Verhandlungen, aber die dauern dann 30 Jahre.

Sie haben selbst im Konvent gearbeitet. Sind Sie denn jetzt auch persönlich enttäuscht?

Nicht, weil ich da mitgearbeitet habe. Aber ich wollte mein Leben lang Deutschland in eine Europäische Union einbinden. Und ich sehe, dass die Gefahr immer größer wird, dass das jetzt nicht mehr passiert. INTERVIEW:

HEIKE HOLDINGHAUSEN