Haltung!

Der „Tatort“ ist zum gesellschaftlichen Spiegel Deutschlands geworden. Er nimmt sich Themen wie Terrorismus oder Kindesmissbrauch an – und will doch nicht wehtun. Dabei zeigen WDR, RB und HR, dass es auch anders geht. Ein Plädoyer für mehr Mut anlässlich der 600. „Tatort“-Folge am Sonntag

VON CHRISTIAN BUSS

Wer im Fernsehen etwas über den Zustand des Landes erzählen will, dreht einen „Tatort“. Denn die Programmfenster, durch die deutsche Lebenswirklichkeit ins Fernsehen weht, werden auch in der ARD rarer. Retro-Soap-Romantik und Heimatbild-Restauration verbreiten zuweilen einen üblen Mief. Gute „Tatorte“ wirken da heute mehr denn je, als habe endlich jemand wieder die Fenster weit aufgerissen. Natürlich, nicht jeden Sonntag stellt sich dieser Effekt ein. Denn es bedarf nicht nur dringlicher Sujets, sondern auch einer klaren erzählerischen Positionierung, die über unverbindliche Empörungs- und Betroffenheitsrituale hinausgeht.

Im Hamburger TV-Revier hat man zum Beispiel bald nach dem 11. September ein Flugzeug entführen lassen, ohne die Implikationen der Terrorbekämpfung zu problematisieren. In Leipzig ermitteln die Kommissare in den Attrappen des Aufbaus Ost, reflektieren dabei aber kaum die mentalen Besonderheiten der neuen Bundesländer. In Berlin chargieren sich zuweilen in Gastauftritten reale Politiker durch die Episoden – die in ihrer entschärften Handlung meist aber geradezu apolitisch sind. Im „Tatort“ manifestiert sich eben auch das ewige Paradoxon der Quote; Aufreger müssen her, aber zu aufregend sollen sie dann bitte doch nicht sein. Es gibt nur eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen: Haltung.

„Mir ist es relativ egal, ob wir nun 21, 22 oder 23 Prozent Einschaltquote bekommen“, sagt HR-Fernsehfilmchefin Liane Jessen. Ein wunderbarer Satz für eine Fernsehfilmchefin. Und aus ihrem Mund völlig glaubhaft. In Zusammenarbeit mit dem Regisseur Niki Stein hat sie vor drei Jahren den Frankfurter „Tatort“ neu konzipiert; inhaltlich und ästhetisch wurde das Format radikal umgestaltet. Die „mentalen Hausschuhe“ (Jessen über die alten HR-Tatorte mit Karl-Heinz von Hassel) wurden sanft, aber zielstrebig ausgemustert. Jetzt dominiert eine düster-existenzialistische Sicht auf das Leben.

Zuweilen besitzen die Krimis etwas Labyrinthisches, mit Knobelarbeit kommt man da nicht weiter. Verschreckt reagierten einige Zuschauer, als sie in der Folge „Das Böse“ mit einer nicht-linearen Narration konfrontiert wurden. „Blöde, wenn das Publikum nicht weiß, was eine Vorblende ist“, kommentiert Jessen trocken. „Antonioni kennt halt niemand mehr. Aber man muss solche radikalen Erzählweisen gerade im ‚Tatort‘ ausprobieren, eben weil er sowieso seine Quote hat.“

In Frankfurt betrachtet man das filmästhetische Experiment allerdings nicht als Selbstzweck. In keinem anderen Fernsehrevier wird so konsequent die Geometrie und spezifische Ökonomie eines Ortes verhandelt. Der Plot wird stets entlang einer vertikalen Linie entwickelt – vom Elend der Straße hoch zum Glas-und-Stahl-Glanz der Geldinstitute. Die zerplatzten Träume im Bahnhofsviertel werden ebenso bebildert wie der ausgestellte Reichtum der Bankhäuser. Manchmal steigen die Ermittler aber auch in ein S/M-Studio hinab, das sich ein Reihenhausbesitzer im Hobbykeller eingerichtet hat. So beschränkt man sich nicht nur auf die Inspektion sozialer Randbereiche, sondern sucht auch die psychoökonomischen Schräglagen im bundesrepublikanischen Alltag. „Was passiert hinter der geschlossenen Tür eines Reihenhauses?“, fragt Jessen. „Für mich kann da nur der Mord lauern.“

Die Gier und die Lust – die Frankfurter Episoden führen sinnfällig vor, in welchen Bahnen, sie kanalisiert werden. Verdrängung und Enthemmung, Angst und Schamlosigkeit werden als zentrale gesellschaftliche Bewegungen und Konditionierungen nachgezeichnet. Jeder jüngere HR-„Tatort“ taugt deshalb, ohne explizit im Finanzmaklermilieu angesiedelt zu sein, auch als Kommentar zu den geplanten Entlassungen bei der Deutschen Bank. „Ich glaube“, sagt HR-Fernsehfilmchefin Jessen, „der ‚Tatort‘ ersetzt im gewissen Sinne heutzutage ‚Das Wort zum Sonntag‘. Die Welt liegt in Scherben, die Beamten setzen sie wieder zusammen. Zumindest bis zum nächsten Fall.“

Sehr gut klappt das auch beim Kölner „Tatort“. Die Kommissare nehmen den Zuschauer mit in komplexe gesellschaftspolitische Themenwelten. Es geht um V-Männer in der rechtsradikalen Szene oder um den unübersichtlichen Handel mit Landminen und deren Entschärfung. „Klar“, sagt Gebhard Henke, Leitung Fernsehfilm und Unterhaltung beim WDR, „im Krimi kann man besonders gut gesellschaftskritische Stoffe behandeln, da man sie nicht umständlich didaktisch aufladen muss.“ Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen im Kölner „Tatort“ gelegentlich, trotzdem ringt man sich zu den komplizierten Sachverhalten im Laufe der Handlung eine Position ab. Dass die „Tatort“-Mannschaft unlängst im Menschenrechtsausschuss des Bundestags zum Thema Landminen angehört wurde, erscheint schlüssig. Das Täterrätsel ist ein exzellentes Debatteninstrument. „Die Autoren müssen wie Journalisten recherchieren“, meint Henke. Man speise so viel Sachinformation in die Episoden ein, wie man zur Durchdringung des Subplots benötige – aber niemals so viel, dass der eigentliche Plot kippelt. „Die Milch“, mahnt Henke, „darf nicht nach Verdautem riechen.“

Doch obwohl ziemlich penibel die Genre-Konventionen eingehalten werden, spürt man in vielen Folgen die eigene Handschrift der Autoren und Regisseure. Junge Filmemacher wie Hannes Stöhr („Berlin is in Germay“), Martin Eigler („Freunde“) oder Züli Aladag („Elefantenherz“) setzen beim WDR-„Tatort“ nach ersten Kinoachtungserfolgen ihr Erzählen mit anderen Mitteln fort.

Drehen vor allem deshalb so viele begabte Nachwuchskräfte einen Krimi, weil es das einzige fiktive Format im deutschen Fernsehen darstellt, mit dem sich noch ein Pfad durch all den eskapistischen Medienmüll zurück in die bundesrepublikanische Wirklichkeit schlagen lässt? „Das würde ich jetzt aber nicht sagen“, entgegnet der WDR-Fernsehfilmchef mit rheinländischer Diplomatie. „Es ist vielmehr so, dass viele junge Regisseure den ‚Tatort‘ wählen, weil hier die Spielregeln einfacher sind.“ Da draußen formiere sich eine neue Generation von Filmschaffenden, die trotz Filmhochschulabschlusses keinen Dünkel mehr vor dem Fernsehen und seinen Unterhaltungsgrundsätzen habe. Henke: „Die wollen alles, nur keine gravitätische Langeweile verbreiten.“ – Bringen aber auch, so muss man ergänzen, starke eigene filmsprachliche Ideen mit.

Der „Tatort“ feiert wohl auch nur deshalb im November sein 35-jähriges Bestehen, weil sich die Redaktionen immer wieder auf neue Impulse einlassen. Am aufgeschlossensten ist wohl Radio Bremen. Hier ist öffentlich-rechtliches Fernsehen, was es aufgrund seiner paritätischen Entscheidungsstrukturen nur selten sein darf: aufregend und unberechenbar. Im guten wie auch im etwas schlechteren Sinne – einige RB-Folgen setzen neue „Tatort“-Standards, andere sind sehr mäßig.

Annette Strelow, verantwortliche Redakteurin für den Bremer „Tatort“, formuliert vorsichtig: „Ich bin mir darüber bewusst, dass wir nicht immer die sichere Nummer fahren. Das soll auch so bleiben.“ Gut so, denn natürlich schaut man lieber einen grandios gescheiterten und einen furios geglückten Beitrag von Radio Bremen an als, sagen wir mal, zweimal routinierte Langeweile vom Saarländischen Rundfunk. „Wir haben kein Schema, nach dem wir immer wieder vorgehen“, so Strelow. „Die Bildsprache wird komplett dem jeweiligen Stoff angepasst. Die Ermittler müssen mal uneitel zum Wohle der Geschichte nach hinten treten – oder sich nach vorne zerren lassen.“

Zu Recht hat man dem kleinen Sender die Ehre eingeräumt, am Sonntag die 600. Folge der Krimi-Reihe zu stellen. „Scheherazade“ (siehe auch Besprechung in der Wochenendkrimi-Kolumne am Sonnabend) ist ein fieberhafter Paranoia-Thriller, in dem eine junge Frau behauptet, ihr ermordeter Lebensgefährte sei in die Anschläge auf das World Trade Center involviert gewesen. Ihre Glaubwürdigkeit wird geschickt im Vagen gehalten. „Bei uns stand nicht zuerst das Thema 11. September auf dem Plan“, erklärt Strelow. „Wir wollten zuerst etwas über Verschwörungstheorien machen. Was glaubt man, was glaubt man nicht?“

Wenn der Bremer „Tatort“ richtig gut ist, werden hier nicht skandalträchtige Themenkrimis konstruiert, sondern Stimmungen und kollektive Unsicherheiten zu schlüssigen Gesellschaftspanoramen verdichtet. Man denke nur an die von Thorsten Näter inszenierte Folge „Schatten“ von 2002, dem einzigen nennenswerten fiktionalen Fernsehbeitrag, mit dem auf die Debatte um die Häuserkampfvergangenheit von Joschka Fischer reagiert wurde. Ganz ohne spekulative, denunziatorische oder gesinnungsbefrachtete Momente wurde da ein Krimidrama zu den APO-Altlasten arrivierter Politiker entwickelt. „Es hat uns verwundert“, gesteht Strelow, „dass wir die einzigen waren, die sich des Falles angenommen haben.“

So verwunderlich ist es dann aber vielleicht auch wieder nicht. Schließlich führten gerade erst die Kanzler-Fiktionen in ARD und ZDF vor, wie schwierig es ist, spannend und authentisch über Politik zu erzählen, wenn es die paritätische Organisation der Sender nahezu unmöglich macht, in den Geschichten Parteizugehörigkeiten durchschimmern zu lassen. Da bedarf es wahrscheinlich eben schon jener in den öffentlich-rechtlichen Verwaltungsapparaten recht seltenen Eigenschaft, die Tatort-Redakteurin Strelow ihrem Programmdirektor unterstellt: „Der hat eine sehr klare Haltung.“

Die Qualität einer Folge bemisst sich eben immer nur nach der Konsequenz, mit der das jeweilige Thema angegangen wird. Es schadet dem „Tatort“ nicht, dass er gelegentlich wehtut.