„Die Grünen dürfen den Weg der SPD zurück in die 80er nicht mitgehen“

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Cohn-Bendit, was wird aus den Grünen?

Daniel Cohn-Bendit: Das kann ich Ihnen sagen: Die Grünen werden, so wie es aussieht, in die Opposition gehen. Und das ist keine Katastrophe. Man hat mitgestaltet, es war faszinierend, aber es scheint zu Ende zu sein. Aber wir müssen die Machtoption perspektivisch immer mitbedenken. Wir brauchen eine glaubwürdige Machtperspektive in Bund, Ländern und Kommunen, keine reine apodiktische Beteuerung von Rot-Grün.

Die Katastrophe am Horizont heißt Scheitern an der Fünfprozentklausel?

Ich glaube nicht, dass diese Bedrohung real ist. Es hängt davon ab, wie schnell die Grünen ihre neue Rolle in dieser Gesellschaft annehmen. Wenn sie lange den Machtverlust betrauern, haben sie keine Chance.

Das interessiert keinen.

Nein. Dieser Wahlkampf muss ein reflexiver Wahlkampf sein. Und ein perspektivischer. Wir müssen sagen: Das machen wir politisch. Und wir müssen die gesellschaftliche Debatte eröffnen.

Jenseits von Rot-Grün?

Ja. Es gibt keine rot-grüne Regierung mehr.

Also sofort rausgehen?

Das hätte Schmackes, aber nur für fünf Minuten. Außerdem: What’s the problem? Es ist eine geschäftsführende Regierung, von der jeder weiß, dass es sie im September nicht mehr geben wird.

Nun ist das Motto: Rette sich, wer kann?

So wie sich die SPD positioniert, hat der Kanzler unser Vertrauen nicht. Schröder kämpft darum, mit Anstand abzugehen und die SPD in eine große Koalition zu führen. Und die SPD versucht, ihre Identität zu retten, indem sie sich in die Achtzigerjahre zurückbeamt – politisch, inhaltlich und auch eben in Bezug auf die Grünen. Im Grunde sagt sie wieder das, was sie in den Achtzigerjahren gesagt hat: Ihr Grüne seid die Partei der besser Verdienenden und eine Luxuspartei. Deswegen brauchen wir euch nicht mehr.

Was folgt daraus für die Grünen?

Sie müssen offensiv sagen: Mit so einer SPD, können und wollen wir nicht koalieren. Das bedeutet nicht, dass man nie wieder koaliert. Es bedeutet: Wir Grünen gehen diesen Weg zurück in die Achtzigerjahre nicht mit.

Sondern?

Das ist die Herausforderung in diesem Wahlkampf und in der Opposition in den nächsten vier Jahren: das grüne Projekt. Formulieren, was eine libertäre, liberale, sozial-ökologische Partei für die zweite Hälfte dieses Jahrzehnts und für das folgende Jahrzehnt ist. Das hat zur Konsequenz, dass die Grünen ihren Wahlkampf nicht reduzieren dürfen auf: Oh Schreck, oh Graus, die schwarze Republik kommt. Und: Merkel-Westerwelle, was für grausige Figuren!

Haben Sie mehr zu bieten als Lagerwahlkampf?

Die Leute, die die Grünen in die Opposition wählen, müssen das im vollen Bewusstsein machen, dass hier ansatzweise wirklich die Fragen aufgegriffen werden, die unsere Zukunft betreffen. Merkel, die SPD, die FDP und die PDS werden diese Fragen nicht anpacken.

Diese Fragen stellen sich jenseits des Arbeitsmarkts?

Nein. Die Grünen müssen auch zum Arbeitsmarkt zurückkommen, aber sie müssen klar machen, es gibt Irrwege. Der Ansatz der SPD und der traditionellen Linken ist ja die Rückkehr zum zentralisierten Arbeitsmarkt. Dahin kommen wir mit einer Wachstumspolitik, egal wie sie aussieht. Das sagt ja auch die CDU …

Vorfahrt für Arbeit …

Genau. Das bedeutet: Alles andere,Umweltpolitik, Naturschutz, Verbraucherpolitik, ist Luxus. Das können wir uns nicht mehr leisten.

Sieht eine Mehrheit derzeit so.

Zugespitzt: Wenn es eine Klimakatastrophe gibt, dann nützt es denen, die Arbeit haben, nichts: Alle werden Opfer.

Das hört sich nach Fundamentalopposition an.

Nein, keine Fundamentalopposition. Wir erarbeiten eine Position, die man in den folgenden Landtagswahlen übernehmen kann. Dann kann man sagen: Wenn ihr morgen – wo auch immer –, eine andere Regierung als die absolute Mehrheit der CDU, Schwarz-Gelb oder große Koalition, dann müssen die Parteien, die diese Mehrheiten ablösen wollen, sich auf unsere Ebene zubewegen. Und wir müssen die Gesellschaft davon überzeugen, dass wir die Zukunft mit allen Problemen andenken.

Verheben die Grünen sich dabei nicht?

Nein. Wir werden Lücken haben, Leerstellen, schwarze Stellen, das macht überhaupt nichts. Wir müssen sagen, was die notwendige Auseinandersetzung sein wird, die diese zukünftige Mehrheit herausfordert. Die entscheidenden Begriffe sind: libertär, liberal, sozial, ökologisch. Libertär heißt: Wir müssen die Partei sein, die die Autonomie des Individuums nicht nur respektiert, sondern durch politisch-gesellschaftliche Vorschläge ermöglicht, sie auch zu leben.

Was ist das Neue?

Nehmen Sie die Autonomie der Gestaltung des Lebensalters und des Todes. Das wird perspektivisch zu einem neuen Massenproblem. Das sind Dinge, die anfangen, viele meiner Generation herauszufordern.

Die Grünen als Partei der „Golden Agers“, der Senioren?

Ach was, wir müssen die gesamte Palette der persönlichen Freiheiten aufgreifen. Und zwar da, wo es schwierig wird. Zum Beispiel in der Frage der Sterbehilfe. Wir sind eine libertäre Partei, aber wenn es weh tut, sind wir christlich. Das geht nicht. Genauso ist es mit der Gentechnologie.

Eine Neupositionierung?

Was ich meine, ist: Bei der Homo-Ehe und in Fragen der sexuellen Orientierung haben sich die Grünen jenseits der christlich-moralischen Werte positioniert. Aber bei Sterbehilfe und Gentech haben wir uns in die christliche Moral eingeordnet. Da sind zumindest Teile der Gesellschaft weiter.

Was ist Ihre Position?

Bei der Gentechnologie bin ich mir selbst unsicher, wie weit man gehen soll. Darüber müssen wir in den nächsten vier Jahren reden. Die Grünen müssen die Partei sein, die diese Unsicherheit aufgreift und mit den Menschen diskutiert.

Das klingt immer gut: Mit den Menschen diskutieren.

Ernsthaft: Die Grünen müssen im Parlament opponieren, aber sie müssen vor allem die gesellschaftliche Diskussion organisieren und umgestalten. Die eigentliche Diskussion, das hat mich beim EU-Referendum in Frankreich so fasziniert, findet im Internet statt, und zwar in einer wahnsinnigen Gewalt, Massenhaftigkeit und auch Inhaltlichkeit.

Was ist mit dem Liberalen?

Gut, da sind die Grünen in der Regierung an Grenzen gestoßen. Aus rechtsstaatlichen Gründen haben wir die Einwanderungspolitik und die Änderung des Staatsbürgerrechts vorangetrieben. Gleichzeitig müssen wir reflektieren, was haben wir in dieser Einwanderungspolitik vom Ansatz her falsch gemacht?

Was?

Ein kanadischer Minister sagte mir: Wir machen es ganz einfach: Wir organisieren eine legale Arbeitsmigration und schließen einen gesellschaftspolitischen und politischen Pakt: Kommt rein und werdet sofort zu kanadischen Bürgern. Es gibt eine Infrastruktur, die die Menschen in alle Bereiche des Lebens in kürzester Zeit einführt.

Und was ist mit Asylbewerbern?

Das ist die zweite Einwanderung. Asylbewerber, Kriegs-und Katastrophenflüchtlinge. Die haben sich nicht für Kanada entschieden, sondern zu fliehen. Die werden dadurch integriert, dass die Schicht der Einwanderer, die bewusst gekommen sind, ihnen zeigen, wie das geht. Wir werden in den nächsten zwanzig Jahren anwerben müssen.

Vielleicht steigert die Union ja die Kinderproduktion?

Sehr witzig. Da können sie eine Familienpolitik machen, wie sie wollen. Oder schwarz-gelbe Angebote zur sexuellen Erregung: Sie werden die Zahlen nicht erreichen, die sie brauchen. Nein, die Einwanderung muss man jetzt durchdeklinieren unter Berücksichtigung der Fehler, die wir gemacht haben. Es muss einen bundesrepublikanischen Pakt der Einwanderer mit dem Einwanderungsland geben. Vielleicht auch einen europäisch-bundesrepublikanischen.

Das klingt für einen Grünen radikal.

Ja, das ist das radikal Neue. Das war ja eine doppelte Verlogenheit der traditionellen Arbeitsmigration der Sechzigerjahre. Deutschland sagt, die kommen und werden gehen. Und die sagen, wir kommen und werden gehen. Wir dürfen diese Lebenslüge nicht verlängern. Wir müssen die Einwanderung wie ein Einwanderungsland organisieren. Und nicht wie die Erweiterung des Arbeitsmarkts.

Das kann die CDU machen: Qualifizierte Einwanderer im Singen der Hymne ausbilden.

Quatsch, aber Heiner Geißler und ich würden uns schnell verständigen über die Notwendigkeit einer republikanisch gestalteten Einwanderung. Hier würden Menschenrechte, Freiheit der sexuellen Orientierung, gleiche Bildungschancen, Religion und Laizismus und Frauenemanzipation eine wichtige Rolle spielen. Aber die CDU? Das sollen sie mal im Wahlkampf sagen. Nein, das ist ein politisch-ideologischer Quantensprung. Das traut sich weder die SPD noch die CDU.

Dann bleibt es Theorie.

Nein. Die Grünen werden in Zukunft koalieren können mit denen, die sich auf ein Feld der Grünen auch hinbewegen.

Was ist mit der alten Trumpfkarte Ökologie? Dass man den Einstieg in den Atomausstieg geschafft hat, löst nirgendwo mehr Euphorie aus.

In dem Moment, wo der Ausstieg aus dem Ausstieg verkündet werden wird, wird es wieder interessieren. Aber ich glaube auch, dass Verbraucherschutz heute die Menschen mehr bewegt als Atomkraft. Und Qualität der Nahrung und all solche Sachen bis zur Frage: Wer ist zu fett und wer ist nicht zu fett?

Womit wir elegant bei Außenminister Fischer wären.

Also ich finde, dass die Außenpolitik Joschkas in vielen Fragen der Verantwortung Europas und Deutschlands in der Welt gut war. Ich finde aber auch, dass es uns nicht gelungen ist, Außenpolitik zu definieren als sozial-ökologische Regulierung der Globalisierung.

Das war der Anspruch?

Sicher. Aber de facto sind wir nicht dahin gekommen, vielleicht, weil der Alltag vom Nahen Osten über den Krieg, den Irak, Europa, das alles vernebelt hat. Ich glaube, dass das die zentrale Frage für eine ernsthafte Kapitalismuskritik ist: Mit einer sozial-ökologischen Steuerung der Globalisierung als Außenpolitik kommt die innenpolitische Dimension als europäische Innenpolitik, nämlich die Regulierung der aus der Welt kommenden Kapitalflüsse. Das ist uns auch nicht gelungen.

Fischer war sicher nicht parteiübergreifend so populär, weil er das innovative Moment verkörperte. Bild lobte ihn als „richtigen“ Politiker. Und jetzt soll er wieder grün pur sein?

Das ist ein Widerspruch, ja. Das ist die Schwierigkeit. Aber das ist auch das Faszinierende für ihn. Joschka wird in diesem Wahlkampf nicht mehr als Außenminister handeln und nicht mehr als potenzieller Außenminister mit Verantwortung für die Welt, sondern er ist als grüner Politiker mitverantwortlich für die inhaltliche Gestaltung des grünen Projekts.

Langweilig, wenn man für die Welt verantwortlich war?

Die Frage ist legitim: Wie kann sich Joschka in diesem Wahlkampf faszinieren?

Wie denn?

Wenn Joschka Fischer sich entscheidet, Spitzenkandidat zu sein, dann hat er sich entschieden, diese Herausforderung anzunehmen. 2002 war es legitim und richtig zu fragen: Wollt ihr Stoiber-Westerwelle oder wollt ihr Fischer-Schröder? Jetzt nicht mehr.

Das heißt, die derzeitigen grünen Minister treten in den Hintergrund?

Nein, die treten nicht in den Hintergrund, sondern sie werden nicht auf ihr Ministeramt reduziert. Trittin steht für Umweltpolitik, Künast für Verbraucherpolitik. Joschka steht für eine verantwortliche Außenpolitik. Und alle drei stehen jetzt für das grüne Projekt. Sie müssen jetzt in diesem Wahlkampf zu einer grünen politischen Identität zurückfinden. Das ist ihr politisches Problem.

Der Soziologe Heinz Bude hat vor einem Jahr in der taz Merkel prophezeit und ein „Hauen und Stechen auf der linken Seite“.

Sehr gut. Ich bin für die Konkurrenz in der Gesellschaft. Ich werde und ich will nicht kandieren, aber wenn mich etwas richtig begeistern könnte, wäre das, wenn dieser Lafontaine kandidieren würde. Was hat Lafontaine als Modernisierer, als Ministerpräsident, was hat der an neoliberalen – in Anführungsstrichen – Politikansätzen verteidigt? Die fundamental-sozialistische Positionierung nach Art Gysi-Lafontaine ist inhaltlich perspektivlos, weil sie rückwärts ist, back to the Eighties, back to the Fifties. Ich glaube, dass die soziale Frage links-traditionalistisch, staatlich, nur mit Investitionen nicht gelöst werden kann. Das ist die große Auseinandersetzung, auch mit den Grünen: Sie haben die europäische Ebene unterschätzt und zwar politisch.

Was heißt das?

Ein Beispiel: Finanzperspektive Europa. Da sagt mir der Jürgen Trittin: Das ist doch ganz einfach, ich investiere fünf Euro und kriege nur zwei zurück. Damit hat er nichts verstanden. Wir brauchen eine Investitionspolitik. Aber die kommt aus Brüssel. Ich gebe Ihnen anderes Beispiel: Die lange Debatte über Modernisierung des Schienenwegs in Deutschland. Der Schienenweg fängt am Atlantik an und hört in Moskau auf. Wer nur den Teil des Schienenwegs sieht, der in Deutschland liegt, ist ein Idiot. Ich will sagen: Es gibt vieles, was notwendig ist, aber nur europäisch machbar und denkbar ist. Jeder Gedanke, den europäischen Haushalt zu reduzieren, um irgendwelche kleinen Löcher zu stopfen, ist das, was Eichel für Deutschland macht: Man spart sich zu Tode.

Soziologen konstatieren eine konservative Tendenz , die sich nicht nur im Schwenk zur CDU ausdrückt, sondern einer generellen Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit.

Die Grünen können nicht den Platz einer ruhigen und geborgenen Heimat bieten.

Vielleicht einer geborgenen, grünen Heimat?

Nein. Die Grünen müssen die Menschen erregen. Sie müssen intellektuelle Herausforderer sein. Gesellschaftliche Herausforderer. Wenn die Grünen mit Realismus und Substanz argumentieren, müssen sie sagen: Wenn ihr uns wählt, wird’s schwieriger, denn nur wenn wir unsere Lebensformen und Stile auch ändern, werden wir politisch weiterkommen. Wir müssen auf die Fragen der Umverteilung von Arbeit und Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnersatz zurückkommen.

Kann Fischer all das glaubhaft, intellektuell und emotional mitreißend verkörpern?

Ich sage es Ihnen noch mal: Sie dürfen Joschka nicht unterschätzen. Joschka hat jetzt die Verantwortung, den Übergang zu begleiten. Er ist Symbol für eine bestimmte Geschichte der Grünen, die Grünen-Wähler auch verteidigen, es ist auch deren Identität. Und er muss jetzt, das ist das Neue, Symbol auch des Wegs in eine andere Richtung sein. Es geht nicht mehr um Realo vs. Fundi. Es geht auch nicht mehr darum, ob wir regierungsfähig sein wollen oder nicht. Das waren wir. Es geht darum, wie wir jetzt wieder gesellschaftsorientierungsfähig werden.

Hat das wirklich Erregungspotenzial für einen nationalistisch und auf den Arbeitsmarkt reduzierten Wahlkampf?

Klar. Die Wahl ist nicht: Merkel oder nicht Merkel. Sondern: Entweder bestimmst du deine Zukunft mit oder die anderen bestimmen deine Zukunft.

Nach sieben Jahren Rot-Grün gibt es nicht nur eine neue Mehrheit, sondern eine apathische Minderheit.

Das glaube ich nicht. Je öfter Merkel und Westerwelle erscheinen werden, desto aggressiver wirst du aus deiner Lethargie herausgekitzelt. Ich kann Westerwelle schon jetzt nicht mehr hören. Das ist wirklich unerträglich. Wenn ich dran denke, würde ich am liebsten doch Lagerwahlkampf machen.

Sie laufen ja ganz heiß.

Jeder muss sich selbst mobilisieren. Aber es ist machbar.

Was ist machbar?

Die Erregung. Nicht mehr die Anarchie, sondern die Erregung ist machbar, Herr Nachbar.