Sein Fleisch ist kein Gemüse

Der New Yorker Queer-Folk-Cabaret-Sänger Antony bringt mit seiner Band The Johnsons eine ganz neue Saite im wohl bekannten Orchester der Seelenpein zum Schwingen. Nun sind sie auf Tour

VON GREGOR KESSLER

Wenn jedes große Gefühl ausgetreten wie eine alte Treppenstufe vor dir liegt, wenn jeder Schrei aus Angst und Schmerz vertraut wie die Warteschleifenmelodie deiner Mobilfunkanbieter-Hotline klingt, dann ist es ein mutiger Schritt, sich an einer düster-emotionalen Platte zu versuchen. Und es ist ein großer Schritt, wenn es diesem eigentlich doch so aussichtslosen Versuch tatsächlich gelingt, eine neue Saite im so wohl bekannten Orchester der Seelenpein zum Schwingen zu bringen. Antony, einem Sänger und Pianisten aus den dunklen Hinterräumen der New Yorker Schwulencabarets und seiner Band den Johnsons ist dieses kleine Wunder geglückt.

Dabei ist vielleicht sogar das größere Wunder, dass die rabenschwarzen Balladen dieses kreideweißen Kolosses nun tatsächlich ihren Weg in Deutschlands gut gepolsterte Theatersäle gefunden haben. Dort sprang zuletzt Adam Green seine immergleichen Seepferdchenhüpfer zu postmodernen Sinatra-Adaptionen, aber selten sang hier ein vibrierendes Falsett zur Klavierbegleitung über Brustamputationen und Transgenderfantasien. Als Antony zuletzt auf hiesigen Bühnen stand, im Vorprogramm der kajalbärtigen Elektro-Folk-Schwestern Coco Rosie, da taten sich selbst offene Gemüter schwer mit ihm. Die oktavreichen Herzblutungen des Klavierspielenden Herrn Antony seien dann doch zu theatralisch, zu wenig ironisch, zu angestrengt emotional gewesen, hieß es. Vielleicht war es aber auch nur: zu ungewohnt. Ein paar Monate und eine CD später ist das Unverständnis in grelle Begeisterung umgeschlagen. „I’m A Bird Now“, das zweite und entschieden leichter zu findende Antony & the Johnsons Album, hauche den dunkel-samtigen Klangfarben einer Nina Simone neues Leben ein, lässt sich überall lesen.

Dabei ließe sich Antonys agiles Kopfvibrato doch ebenso leicht in die Nähe von Tiny Tim oder Maria Callas oder Björk rücken. Aber wichtig war doch allein: Hier ist eine Stimme, wie es sie lange nicht gab. Eine weiße Stimme, so nah am schwarzen Soul, wie Beth Gibbons’, so tief im Weltschmerz wurzelnd, dass Papiertaschentücher zum Lieferumfang der CD gehören sollten, so plastisch das Vier-Uhr-früh-an-der-leeren-Bar-Gefühl nachmodellierend, dass man nach jedem Hördurchgang versucht ist, eine Aspirin aufzulösen.

Früher trat Antony mit seinen Stücken allein in New Yorker Clubs auf, begleitete sich selbst am Klavier und mit zuvor eingespielten Backingtracks. Erst 1998 stellt er eine variable Band zusammen und nennt sie die Johnsons. Deren Besetzung wechselt wie die (Kunst-)Haare auf Antonys Schädel. Gerade umfassen sie neben Bass, Cello, Violine auch ein Akkordeon. Damals gehörte auch öfter Klarinetten und Flöten dazu. Dazu sang Antony dann herzschmelzende Oden an Drag Queens („Devine“) und Lamentos über seelische Abgründe („Hitler in my Heart“), und das war genug, um einen anderen britischen Sonderling zu begeistern: David Tibet, Kopf der britischen Avant-Folk-Esotheriker Current 93 veröffentlicht Antonys namenloses Debüt auf seinem Durtro Label. Köpfe fangen an, sich in Antonys Richtung zu drehen. Darunter auch ziemlich wichtige Köpfe.

Als Lou Reed diese Stimme hört, ist er so hingerissen, dass er Antony erst auf seinem „The Raven“-Album singen lässt und ihn dann mit auf Tour nimmt. Dort stimmt der kräftige Mann mit den verblüffenden Stimmbändern ein altes Velvet Underground Stück an: „Candy says, I’ve come to hate my body and all that it requires in this world.“ Das tat Antony gern, denn Warhols Factory-Posse, die es nicht so eng nahm mit den Geschlechterrollen, hatte es ihm angetan. Neben den Spuren von Marc Almond war auch sie ein Grund für den gebürtigen Briten, 1990 von Kalifornien weiter nach New York zu ziehen. Nun ziert der Transvestit Candy Darling, von dem jenes Velvet-Underground-Stück handelt, das Cover von „I’m a Bird Now“. Und die Lobeshymen von Reed und Laurie Anderson sorgten dafür, dass viele genauer hinhörten.

Was sie da hörten, zeigte, dass auch Antony nichts dagegen hätte, seinen Körper hinter sich zu lassen. Die Platte sagt es im Titel, Stücke wie „For Today I am a Boy“ erzählt es im Text, die Musik spricht davon in ihren Spiritual-Anleihen: Mein Fleisch ist ein Gefängnis, und wenn ich nicht bald den Schlüssel finde, dann schmücke ich’s mir so, als wär’s die Freiheit.

Deswegen muss man nicht gleich so weit gehen und Antony and the Johnsons unter „Gospel & Religious“ einsortieren (wie es eine Internet-CD-Datenbank tut). Lieber sollte man sich freuen, dass New York nach den ganzen Nummer-Sicher-Retro-Rockern auch wieder spannende, mutige Musik produziert. Und zufrieden registrieren, dass kein kleiner Teil dieser Szene auf dieser Platte gemeinsame Sache macht. Der Folk-Esoteriker Devendra Banhart singt ebenso ein paar Takte wie Rufus Wainright, Coco Rosie und die No Neck Blues Band sind Freunde. Muss ja heute nicht alles schlecht sein, was früher mal gut war. Also: Bildet Banden!

16. 6.: Stuttgart; 18. 6.: Leipzig; 19. 6.: Berlin; 20. 6.: Hamburg; 21. 6.: Wuppertal; 22. 6.: Heidelberg