Nie wieder Fotos!

Dann brach der Krieg aus, und junge Männer, die Freunde hätten sein können, fotografierten sich. Beinahe hätte sich die Menschheit selbst fotografiert! Der Wahnsinn muss enden! Eine Erzählung

VON JOCHEN SCHMIDT

Für Susan Sontag

Ich habe das Fotografieren noch auf der Straße gelernt. In unserem Viertel gehörten Fotos zum Alltag. Wer nicht fotografierte, wurde fotografiert. Nachts lagen wir in unseren Betten und sahen an der Zimmerdecke den Widerschein der Blitzlichter. Schon als Kinder spielten wir mit selbst gebastelten Fotoapparaten Fotograf und Objekt. Natürlich wollte keiner das Objekt sein. Wir konnten es kaum erwarten, wie unsere großen Brüder für einen der reichen Fotografen im Viertel zu arbeiten, die in funkelnden Limousinen fuhren und es nicht mehr nötig hatten, selbst zu fotografieren. Sie hatten immer ein paar Jungs im Schlepptau, die das für sie erledigten mit riesigen Fotoapparaten. Und die schönsten Frauen leisteten ihnen Gesellschaft.

Ich weiß ja, dass man das heute nicht mehr sagen soll, aber es ist einfach so: Frauen stehen auf Männer mit Fotoapparaten. Dann wuchs eine neue Generation heran. Die Jungen hatten keinen Respekt mehr vor den Älteren. Sie wollten nicht warten, bis ihre Zeit gekommen war, sondern gleich die großen Fotos machen. Sie fingen auch an, mit Fotoapparaten zu dealen. Das Fotografieren wurde immer schmutziger, es gab keine Regeln mehr. Frauen und Kinder wurden fotografiert, einmal sogar ein Priester bei der Beichte. Man konnte sich nicht mehr auf die Straße trauen ohne Fotoapparat.

Am schlimmsten waren die Japaner. Sie arbeiteten nicht allein, sondern kamen in großen Gruppen. Wenn sie irgendwo auftauchten, hinterließen sie eine gespenstische Szenerie, alles war fotografiert. Die Polizei kam immer zu spät. Sie war ja auch der lachende Dritte. Heimlich machten die Polizisten selber Fotos. Viele von ihnen waren schlimmere Fotografen als wir selbst.

Dieser Wahnsinn musste ein Ende haben. Wenn wir so weitermachten, würden wir uns eines Tages alle gegenseitig fotografiert haben. Es wurde ein großes Treffen vereinbart, zu dem die mächtigsten Fotografen kamen, um die Stadt neu aufzuteilen. Wenn jemand außerhalb seines Viertels ein Foto machte, musste er es abliefern. Es waren gute Zeiten, der Champagner floss in Strömen.

Dann brach der Krieg aus, ich kam nach Europa, wo ich mit ansehen musste, wie sich Menschen fotografierten, die zu Hause noch nie einen Fotoapparat gesehen hatten. Junge Männer, die Freunde hätten sein können, fotografierten sich. Die die Befehle gaben, nahmen selbst keinen Fotoapparat in die Hand. Nicht nur ich denke so: Wenn die Politiker und Generäle selbst fotografieren müssten, würde es gar keine Kriege geben.

Es hieß immer: Willst du, dass wir alle deinetwegen fotografiert werden? Was machst du, wenn jemand deine Mutter fotografiert? Wirst du ihn dann nicht fotografieren? Also nimm deinen verdammten Fotoapparat und fotografiere, sonst kommst du vors Kriegsgericht und wirst fotografiert. Viele hielten den Druck nicht aus und fotografierten sich in ihrer Verzweiflung selbst.

Ich habe damals Fotos gemacht, über die ich immer noch nicht sprechen kann. Wenn du im Schützengraben liegst und von allen Seiten fotografiert wirst, dann denkst du nicht darüber nach, was du tust. Du siehst nur deine Kameraden, die genau solche Angst haben wie du, und du fotografierst um dein Leben. Die Jungs auf der anderen Seite würden es genauso machen. Dieses ganze Fotografieren ist ein Wahnsinn. Wenn es nach mir ginge, würden alle Fotoapparate vernichtet. Zuletzt schickten die Deutschen schon alte Männer und Kinder, um uns zu fotografieren. Das hatte nichts mehr mit ihrem Blitzkrieg zu tun, die waren fertig. Aber, als sie endlich kapituliert hatten, war für uns noch nicht Schluss, wir kamen in den Pazifik, um die Japaner zu fotografieren. Zu der Zeit kam das Gerücht auf, unsere Regierung würde an einem neuen Fotoapparat arbeiten, mit dem man ganze Städte fotografieren konnte. Und so kam es dann ja auch. Danach war die Welt nicht mehr dieselbe. Die Russen bauten auch so einen Fotoapparat, und um ein Haar hätte sich die Menschheit selbst fotografiert.

Als der Krieg zu Ende war, hatte ich die Nase voll vom Fotografieren. Meine Kinder sollten in einer Welt ohne Fotos aufwachsen. Aber die Jungs von meiner alten Gang durften davon nichts merken. Wenn du einmal mit einem von denen fotografiert hast, lässt er dich nicht mehr gehen. Du bist dann für immer ein Fotograf, ob du es willst oder nicht. Ich beschloss, noch ein letztes Foto für sie zu machen und dann mit meiner Familie zu verschwinden.

Aber jemand musste mich verraten haben. Der Auftrag war eine Falle. Sie schleppten mich zum Hafen in eine leere Lagerhalle und belichteten mich die ganze Nacht. Sie wollten wissen, für wen ich in Wirklichkeit fotografierte. Nur die Sorge um meine Familie half mir, das zu überstehen. Ich weiß nicht, warum sie mich am Ende nicht fotografiert haben, vielleicht aus Mitleid. Schon am nächsten Tag haben wir Brooklyn verlassen und sind in den Westen gezogen, wo wir immer noch leben, auf unserer eigenen Farm. Wir sind nicht reich, aber wir kommen zurecht. Ich glaube, Fotografieren ist etwas für Feiglinge. Es ist einfach, seine Probleme mit einem Fotoapparat zu lösen. In der Bibel steht geschrieben: Du sollst nicht fotografieren. Und das ist es, was ich den jungen Menschen sage, die heute wieder vom Fotografieren träumen: Nie wieder Fotos!