Auf dem Gipfel der Kunst

Die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit streng literarisieren und dabei poetische Wirklichkeiten herstellen: Brigitte Kronauer erhält dieses Jahr den Georg-Büchner-Preis

Viel drauf geben kann man nie auf die alljährlich im Vorfeld von Preisverleihungen herumschwirrenden Gerüchte, in denen mal dieser, mal jener Name heftigst gedroppt wird. In diesem Jahr hielt sich das allerdings im Fall des Georg-Büchner-Preises in Grenzen. Nur dass es eine Frau werden würde, wussten schon ganz viele, das war schon fast kein Gerücht mehr. Und da war es dann auch gar nicht so abwegig, auf die in diesem Jahr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Brigitte Kronauer zu kommen: Spätestens seit ihrem dritten, von der Literaturkritik durchweg gefeierten Roman „Berittener Bogenschütze“ aus dem Jahr 1986 steht und schreibt die 1940 in Essen geborene Kronauer in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Spätestens seitdem gehört sie zu den herausragenden, vom großen Publikum allerdings noch nicht recht wahrgenommenen Erzählerinnen in Deutschland.

Die bislang bescheidene Gunst des Publikums hat selbstredend ihre Gründe. Vor dem schnellen, gebrauchsfertigen Erzählen kommt bei Brigitte Kronauer immer zuerst die Kunst. Lieber macht sie eine poetische Drehung mehr, als sich dem „Terror der Realität“ auszusetzen, den sie Anfang der Achtzigerjahre beschrieben hat als „die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit und das Gegensätzliche: die Hartnäckigkeit einer einzigen Sicht, die sich für die Realität ausgibt und deren Diktatur, man könnte es ‚Diktatur der Literatur‘ nennen, umso größere Chancen hat, je weniger sich jemand mit Literarischem beschäftigt“.

Man könnte auch sagen: Brigitte Kronauer versucht, die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit streng zu literarisieren und dabei eine eigene poetische Wirklichkeit herzustellen.

Nach zwei mehr oder weniger tough-introspektiven Entwicklungs- und Emanzipationsromanen, in denen jeweils eine Frau die Hauptrolle spielte, steht in „Berittener Bogenschütze“ erstmals bei Brigitte Kronauer ein Mann im Mittelpunkt des Geschehens: der 40-jährige Literaturwissenschaftler und Joseph-Conrad-Fan Matthias Roth, der irgendwann auf einer Italienreise versucht, eine mittelschwere Lebenskrise in den Griff zu bekommen. Zeichnet sich Roths Dasein durch eine große Fremdheit seiner Umwelt gegenüber aus – nicht von ungefähr schreibt er an einem Aufsatz mit dem Titel „Die Leere, Stille, Einöde im innersten Zimmer der Leidenschaft“ –, so gelingt es ihm in Italien, aus dieser Isolation und Fremdheit eine bewusst empfundene und dazu eine bewusstseinserweiternde und letztlich lebensrettende Einsamkeit werden zu lassen – mit unermüdlichen, ihm immer wieder neue Glücksgefühle bescherenden Naturbeobachtungen, die ganz nebenbei von der Bürde befreien, immer wieder mit der Gesellschaft kommunizieren zu müssen.

Diese in der Figur des Matthias Roth erstmals voll ausgespielte Beobachtungsgabe ist es dann auch, die die ganz große Stärke von Brigitte Kronauers in der Regel handlungsarmen Romanen und Erzählungen ausmacht. Aus den vielfältigen Natur- und Dingbeobachtungen heraus, aus dem Kontrast zwischen Banalem und Erhabenem entwickeln sich die Charaktere ihrer Figuren äußerst präzise, ohne je bei einer öden 70er-Jahre-Innerlichkeit zu landen. Da sei allein schon Kronauers große literarische Bezugsgröße Joseph Conrad vor.

Es ist ein richtiggehender Wahrnehmungsfetischismus, der Kronauers Erzählen auszeichnet, was sie übrigens mit ihrem Georg-Büchner-Preis-Vorgänger Wilhelm Genazino gemeinsam hat, verbunden mit einem unbedingten Willen zur künstlerischen Form. Zuletzt performte sie das überzeugend in ihren kleinen Erzählungen und Naturgeschichten „Die Tricks der Diva“, die bei der Veröffentlichung 2004 leider etwas im Schatten ihres zeitgleich veröffentlichten, großen, vielleicht eine Spur zu ambitionierten Künstlerromans „Verlangen nach Musik und Gebirge“ standen. In diesem gab sie ihrer starken romantischen Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk gehörig Ausdruck. „Verlangen nach Musik und Gebirge“ war ein Roman über die großen Aufs und kleinen Abs in der Kunst, aber auch in der Liebe, und er beinhaltete erneut gezielt und schön die poetologische Programmatik Kronauers: „Immer dies ist die Frage: Kriegen wir die Geschichten (Raster, Klischees, Schlussfolgerungen) in den Griff oder sie uns?“ GERRIT BARTELS