Todessehnsucht in Khartum

Der Mahdi-Aufstand im Sudan und was ein englischer General dagegen unternahm: Lytton Stracheys eleganter Essay aus dem Jahr 1918 über „General Gordons Ende“

VON TOBIAS LEHMKUHL

Man nannte ihn China-Gordon. In Schanghai hatte er einheimische Truppen befehligt, um einem selbst ernannten Messias und seinen militanten Anhängern Einhalt zu gebieten. Das war 1863. Zwanzig Jahre später war er zu Hause fast vergessen. Aber dann erlebte er eine Wiederauferstehung in den Herzen der heldensüchtigen Viktorianer: Als einziger Weißer harrte er in Khartum aus, da die Stadt von den Männern des Mahdi, eines anderen selbst ernannten Messias, belagert wurde. So zwang er die Regierung seiner Majestät – man durfte ihn schließlich nicht im Stich lassen –, in den Sudan einzumarschieren. Zwar kam die Rettung zu spät, Gordon wurde geköpft, der Sudan aber blieb bis 1963 englische Kolonie.

Es ist eine seltsame, unwahrscheinliche und auch ein wenig rätselhafte Geschichte, die Lytton Strachey da in „General Gordons Ende“ erzählt, einem von vier biografischen Essays, die 1918 unter dem Titel „Eminent Victorians“ erschienen sind und Strachey berühmt machten. Der Gordon-Essay ist jetzt, gepriesen sei Allah, vom Berenberg Verlag in Hans Reisigers flotter, leider auch etwas schludriger Übersetzung von 1932 wieder aufgelegt worden.

Dass man den Eindruck gewinnen kann, es dabei mit schöner Literatur zu tun zu haben, liegt zum einen an Stracheys elegantem und gewitztem Stil. Die Geschichte des Mahdi-Aufstands ist hierzulande überdies wenig bekannt, und so mutet sie wie ein Stück gelungener Fiktion an: Der Sudan befand sich damals unter ägyptischer Herrschaft, Ägypten wiederum unterstand, in Gestalt türkischer Paschas, englischer Hoheit. Eigentlich wollte sich die Londoner Regierung aus dem Gebiet zurückziehen. Und der Mahdi wollte, dass sich die Ägypter zurückziehen. Wie zwanzig Jahre zuvor auch in China war die religiöse Bewegung ein Mittel zur Durchsetzung nationalistischer Ziele. Durch verzwickte Winkelzüge erreichte die imperialistische Fraktion im Londoner Unterhaus allerdings, dass General Gordon nach Khartum entsandt wurde – offiziell, um den Rückzug zu organisieren. Dort angekommen, dachte er aber nicht mehr daran, die Hauptstadt dem Mahdi zu überlassen.

Warum? Diese Frage beantwortet Strachey in seinem Essay auf eine für ihn typische, kunstvolle Art. Es geht ihm weniger darum, zu zeigen, was jemand denkt, als wie er denkt. Wenn einem auch rational nicht einsichtig wird, warum Gordon unbedingt in Khartum bleiben will, so weiß man doch, dass er nicht anders kann. Was die Fakten nicht erhellen, was in Gordons uferlosen Aufzeichnungen offen bleibt, dem kommt Strachey in seinem Essay überaus nahe; so subjektiv sein Blick erscheint, so spürbar tastet er mit ihm die ungreifbare Kontur des Gordon’schen Wesens ab, dieser seltsamen Verschränkung aus Todessehnsucht, Philanthropie und religiösem Eifer. Lytton Strachey zielt nicht auf die Klärung einzelner Begebenheiten. Er fahndet nach dem, was den Menschen antreibt, nach den Rädchen, die im Innersten ineinander greifen. Schnell wird dabei klar, dass selbst Leute wie Gordon keine solchen Einzelgänger sind, wie sie zuerst scheinen; sie bilden vielmehr die Extremitäten eines gesellschaftlichen Körpers. Diesen behält Strachey immer im Blick; entsprechend finden sich in jedem seiner Essays, von denen „General Gordons Ende“ sicherlich der stärkste ist, mehrere flankierende Porträts.

Stracheys einzigartige Mischung aus Einfühlsamkeit und distanzierter Ironie macht aus jedem eine kleine Preziose: „Das war das Beruhigendste von allem: bei Lord Hartington brauchte man nie und unter keinen Umständen zu befürchten, dass er geistreich werden würde oder schwierig oder gar tief, auch plötzliche Überraschungen, Äußerungen des Affekts waren von seiner Seite nicht zu befürchten. Wer zu seinen Füßen saß und seinen Reden lauschte, in denen ein massiver Gemeinplatz dem anderen folgte, Flachheit an Flachheit, der fühlte, umfangen und getragen von wahrhaft kolossalischer Langeweile: ja, dem Manne kannst du vertrauen!“

Lytton Strachey: „General Gordons Ende“. Übersetzt von Hans Reisiger. Berenberg Verlag, Berlin 2005, 144 Seiten, 18 Euro