Triumph auf Trümmern

Nicht nur sonntags geht man dort gern hin, Tag und Nacht – jeder nach eigener Fantasie: zum Holocaust-Mahnmal. Ein Anziehungspunkt in der Mitte der Hauptstadt, ein rätselhafter Magnet am Brandenburger Tor. Aber wäre ein bisschen Pietät ob des Mahnmalzwecks nicht angebracht?

VON JAN FEDDERSEN

Der Regen fiel mächtig an diesem Tag und in dieser Nacht, stetig, stundenlang, unendlich. Die Wachleute müssen sich unter das Vordach ihres Containers stellen; sie diskutieren, hörbar locker und gegen das rieselnde Geräusch der Wasserfäden, die zu Boden kommen, die Champions-League-Chancen von Hertha BSC.

Hinter ihnen, im Stelenfeld, wird das Holocaust-Mahnmal in öffentlichen Besitz genommen. Und wie! Die Ziffern sagen dies: zwölftausend Menschen pro Tag – aber das sind Schätzungen, denn es gibt niemanden, der ernsthaft zählt. Wahr und sichtbar ist jedoch, dass Jugendliche dort Fangen spielen; Mädchen hört man giggeln, Jungs röhren und wischen aufgekratzt die Wasserlachen von den Stelen. Vor allem die Älteren schlendern, schirmbewehrt, zaghaft oder forscher, durch das neueste Möbel in der Beletage Berlins, der Hauptstadt.

Das Informationszentrum für das Mahnmals, vor dem sich nachmittags noch kleinere Menschenschlangen gebildet hatten, ist nächtens natürlich geschlossen. Aber nicht, weil auf Führers Trümmern – unter diesem Gelände liegen die Aschen des braunen Horrors begraben – der Grusel in der Dunkelheit unerträglich wäre. Sondern weil für die Nacht kein Personal zu finden ist. Hat dann Aufklärung Ruh?

Und: Ist es nicht taktlos, ja pietätlos, dass ausgerechnet dieses Mahnmal, erst wenige Stunden zur Begutachtung freigegeben, zum Treffpunkt wird, zum populären Ort von Berlinbesuchern, von Berlinern selbst? Sollte man nicht beherzigen, was Lea Rosh, Promotorin des Mahnmals, zu Protokoll gab: „Das ist kein Kinderspielplatz!“ Darf man also, metaphorisch gesprochen, so lebendig, exaltiert und aufgeräumter Stimmung über die Erinnerungen an die ermordeten europäischen Juden hinweggehen? Mehr noch: Ist dieses fast gedankenlose Treiben nicht der unerwünschte Gegensatz zur – beispielsweise – Art und Weise, wie Lea Rosh es zu besuchen wünscht? Nämlich: erinnernd, trauernd?

Doch wie gedenkt man an einem solchen Ort so vieler geprügelter, gedemütigter, terrorisierter, abgeschlachteter, getöteter Menschen? Die Regeln von Takt und Ton auf Friedhöfen sind, egal welcher Religion sie folgen, klar: Man spricht leise, rennt nicht umher, meidet jede Geste, die als obszön verstanden werden könnte, und murmelt mehr selbstgesprächig denn zu einer anderen Person.

Ist eine Etikette des korrekten Mahnmalbesuchs nötig, allein schon, um dem Unfassbaren nicht zu nah zu kommen – der eigenen Endlichkeit, dem Sterben, dem Tod? Und ist das Problem nicht drängender denn je, da Lehrer und Lehrerinnen verzweifeln, wenn ihre Schüler und Schülerinnen nicht, wie im Unterricht besprochen, einen unterschwänglichen Ton anschlagen, weil Fröhlichkeit sich hier nicht ziemt?

Man will dem eigenen Ende ja nie zu nah kommen: Das ist der Grund, weshalb Friedhöfe als spukhaft, unheimlich und gespenstisch gelten. Es braucht keine Hinweistafeln am Eingang – irgendwie macht die Aura einer Grabesstätte dies jedem und jeder fühlbar. Aber für mahnende Prunkstätten wie die zu Ehren der ermordeten Juden gibt es keine moralischen Vorschriftsregeln – aus Mangel an Erfahrung, Gott sei Dank.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, erkannte auch Lea Rosh vor vielen Jahren – und fand ihre Bestimmung in der Idee, ein Holocaust-Mahnmal gegen den beschwiegenen, den schweigenden Ton der Bundesrepublik durchzusetzen. Perfekt, wie man heute wissen könnte, die Fläche, auf der es zu errichten sei: An der Wilhelmstraße, im Zentrum der völkischen Administrationen.

Führers Bunker in guter Wurfnähe, die letzte Fluchtstätte der Goebbels fast lotrecht unter dem Mahnmal. So arrangiert – unterfüttert durch die Bekundungen des politischen Establishments –, dokumentiert das Mahnmal das Bekenntnis: Der Tod war ein Meister aus Deutschland. Ihr da unten seid in der selbst angelegten Hölle – wir hier oben leben. Und zwar, gemessen an euren Idealen, selbstvergessen.

Deutschland soll untergehen, wenn wir nicht mehr sein dürfen? Wie es hunderttausende nach dem 8. Mai 1945 fühlten – und erst recht die Nazis selbst? Voodooistischer Quatsch – was gerade das amorphe Tun auf dem Stelenfeld, als sei es ein dialektischer Meisterzug, beweist. Denn die Toten, an die zu erinnern ist, hätten gern gelebt – aber unter dem Stelenfeld wurden sie nicht ermordet, sondern in Auschwitz und anderswo.

Unter dem Stelenfeld liegen – das ist der Clou – die richtigen Aschen: auf denen es fast zu tanzen gälte. Architekt Peter Eisenman muss das, vielleicht nicht bewusst, so im Sinn gehabt haben. „Die Menschen werden damit machen, was sie wollen. Alles ist möglich, unerwartete Dinge werden passieren“, prophezeite er. Und auf die Frage, was man denn sich denken solle, wenn man durch den Wald der schiefen Stelen geht: „Was Sie wollen“, antwortete er. Und auf den Satz, nicht alle könnten wissen, wie man das Mahnmal angemessen durchschreite, ein lapidares: „Und?“

Sie würden es schon herausfinden, so darf dies interpretiert werden – und sie tun es, selbst wenn es vom Himmel plattert wie zu Pfingsten. Es muss Eisenman gefallen, dass sein Bau noch eine weitere Irritation hinterlässt: dass ein Mahnmal rund um die Uhr ohne geschmackspolizeiliche Regeln besucht werden kann. Kein falscher pädagogischer Ton: ungewohnt, schön, arm an Einschüchterung.

Sommers, das ist sonnenklar, wird das Holocaust-Mahnmal erst recht zum Platz, auf dem schön Verweilen ist. Man darf auf den niedrigen Stelen sitzen, und kein Hausmeister mahnt. Man könnte sich sogar auf die Stelen legen. Niemand verbietet, die Flächen der Stelen zu betasten und zu erfühlen: Sie fühlen sich weich an, schön.

Im U-Bahn-Fernsehen war, in lüsternem Ton fast, zu lesen, es wären erste Nazischmierereien dort am Stelenfeld entdeckt worden. Gut möglich, dass es eine inszenierte Nachricht ist. Oder dass einer malte, was zu malen und dann zu entdecken erwartet wird.

Einerlei: Für die Wiedergänger der Führerscharen muss dies ein quälender Ort sein. Auf den Trümmern ihrer Idole ein Spielplatz der Erinnerung, der Lust und Leben zeigt. Die Häuser drum herum: keine Ruinen des Untergangs; vor dem Brandenburger Tor Konzerte, auf dem Pariser Platz und im Adlon die multikulturellste Mischung, die man sich nur denken kann; der Tiergarten ein Dorado öffentlicher Geselligkeit; an der Ecke zum Mahnmal, in den letzten Plattenbauten der DDR – eine Schwulensauna.

Wenn das der Führer wüsste … Das Holocaust-Mahnmal scheint das froheste der Mahnmale überhaupt zu werden. Eisenman wird es freuen. Es stünde auch sonst jedem und jeder frei, dies überhaupt für ein gutes Zeichen zu halten: Das Mahnmal, das durch kein Verbot zu sich selbst kommt.

JAN FEDDERSEN, 47, taz.mag-Redakteur, hat sich bei jedem seiner Besuche des Holocaust-Mahnmals etwas anderes gedacht