Mann, Haus, Bär

„Poschi“, wie die Kinder das Haus nannten, war im Krieg bombardiert und später abgerissen worden. Jetzt steht es wieder. Nach einem der größten Schriftsteller wird einer der einflussreichsten Banker hier wohnen

VON HANS PFITZINGER

Was ein Schriftsteller macht, kann man sich auch als Nichtfachmann vorstellen. Er liest, sitzt am Schreibtisch, schreibt, denkt, spaziert, setzt Kinder in die Welt, spaziert, denkt, schreibt, hält Vorträge zum Geldverdienen, liest und geht in die Oper. Was aber macht ein Investmentbanker? Er zieht einen Anzug an, bindet einen Schlips um und begibt sich, beispielsweise, in die 58. Etage des Frankfurter Messeturms mit Blick auf die nahen Bankentürme und die fernen Berge des Taunus.

Folgen wir dem Reporter der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in die Welt der Global Player: „Um 9.55 Uhr läutet Peter Hollmann die Glocke. In der Aktienabteilung von Goldman Sachs beginnt der ‚Morning Huddle‘, eine tägliche Stehkonferenz, auf der die aktuelle Lage auf den Finanz- und Rohstoffmärkten besprochen wird. Etwa zwanzig Teilnehmer hören den Ausführungen junger Krawattenträger zu, die über den Handelsverlauf an der Wall Street oder die Tendenz an der Tokioter Börse berichten. Währenddessen klingeln unaufhörlich Telefone.“

Dem Reporter fällt die Sprache der Männer auf (es sind ausschließlich Männer): „Reines Deutsch spricht hier niemand. ‚War das above expectations?‘ fragt jemand, als die Rede auf das Quartalsergebnis eines Konkurrenten zu sprechen kommt.“

Nun könnte es ja sein, dass Sie nicht wussten, was ein „Morning Huddle“ ist. Oder was es mit Goldman Sachs auf sich hat. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die ziehen lieber im Hintergrund die Fäden. Zum Beispiel, wenn ein Großkonzern wie Daimler (Deutschland) und ein anderer wie Chrysler (USA) sich zu einem noch größeren Großkonzern vereinen. Daran waren Goldman Sachs und ihr deutscher Chef Alexander Dibelius „federführend“, wie es heißt, beteiligt.

Zu den Mächtigsten gehört er, der 45 Jahre alte Mergermeister Dibelius. Aber auf das Wort „Macht“ reagiert er allergisch: Laut FAS will er es „partout nicht hören. Er verfüge über gute Kontakte zu einflussreichen Leuten in der Wirtschaft, relativiert er, mit dem Begriff Macht habe dies nichts zu tun, sondern eher mit professionellen Dienstleistungen.“ Keine Macht also, nur Hilfestellung beim Mehrwertschaffen.

Dibelius gehört zur Elite zumindest nach herkömmlichen Kriterien von Erfolg und Karriere. Aus Sicht des Managermagazins sah das im Jahr 2002 so aus: „Der ausgebuffte Investmentbanker liebt schnelle Autos und ebenso rasant lebt er. Im jugendlichen Alter von 24 Jahren war Dibelius bereits promovierter Chirurg, dann wechselte er – frustriert von der Krankenhaus-Bürokratie – zur Unternehmensberatung McKinsey, wo er, natürlich in Rekordzeit, zum Partner aufstieg.“

So etwas „natürlich“ zu nennen, fällt nur einem Wirtschaftsjournalisten ein. Zu den Besserverdienenden gehört Alexander Dibelius ohne Zweifel auch. Es ist anzunehmen, dass dem neuen Co-Chairman Deutschland ein baureifes Grundstück in bester Lage für fünf Millionen Mark wie ein Schnäppchen vorgekommen sein muss. So hat er zugegriffen, als der Grund, auf dem Thomas Manns Villa einst stand, zum Verkauf stand.

Erworben hat Dibelius das Grundstück von einem, der auch einmal als „Überflieger“ bezeichnet wurde: Florian Haffa, Medienunternehmer und gerichtlich verurteilter Aktienbetrüger, der auf der Welle der New Economy angesurft kam und auf sehr alte Art mit seiner Firma EM-TV pleite gegangen war. Haffa hatte das Grundstück Ende der Neunzigerjahre von der Erbin des Apothekers Otto Roeder erworben. Der Erblasser war 1953 nach Zürich gefahren, um Thomas Mann die 20.000 Mark Kaufpreis persönlich in die Hand zu drücken. Roeder, ein Verehrer des Dichters, errichtete einen Bungalow auf den Grundmauern des alten Hauses und setzte sich dafür ein, dass die Föhringer-Allee 1956 in Thomas-Mann-Allee umbenannt wurde.

Als Florian Haffa das Grundstück kaufte, war die Villa eine Ruine. Für die Pläne des Thomas-Mann-Fördervereins e. V., das ursprüngliche Haus originalgetreu wieder aufzubauen und als Museum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte Haffa durchaus Sympathie. Aber dann brauchte er wohl dringend Geld. Für fünf Millionen Mark bot er das Grundstück zum Verkauf an. Der Förderverein konnte, Oberbürgermeister Christian Ude wollte die von Haffa geforderte Summe nicht aufbringen. Und so ging die Adresse Poschingerstraße 1 an den „Elitebanker“ Alexander Dibelius.

Der hatte nichts gegen die Vorgaben des Münchner Planungsreferats, Garten, Mauer und Gebäude nach den ursprünglichen Plänen zu restaurieren und am Zaun eine Gedächtnisplakette anzubringen. Dibelius will das Thomas-Mann-Haus aber privat nutzen. Der ursprüngliche Architekt wird nirgends erwähnt, auf der Bautafel prangt der Name Thomas Dibelius, Cousin des Bauherrn und Architekturprofessor an der Universität Siegen.

Wie es innen aussieht, entzieht sich den Vorgaben. Sicher wird aber der ausgestopfte sibirische Bär fehlen. Der stand seit 1914 auf dem Treppenabsatz, einen Teller für Visitenkarten in den Tatzen, und war ein Erbstück aus Lübeck. In Die Buddenbrooks hat Thomas Mann den Bären verewigt. Er wurde 1937 versteigert, und stand dann, bis ins Jahr 2000, im Schaufenster der Lederwarenhandlung Matt. In den Tatzen hielt er einen Korb mit Fensterleder. Dort entdeckte ihn Elisabeth Mann Borgese, als sie sich wegen der Fernsehserie Die Manns mit dem Regisseur Heinrich Breloer traf. Jetzt steht der Bär im Literaturhaus am Salvatorplatz. In einem Glaskasten.

Am 10. Mai 1945 fährt ein offener US-Jeep die Poschingerstraße hinunter. Fahrer und Beifahrer tragen amerikanische Militärkleidung, das Schiffchen auf dem Kopf. Die Jacken haben sie ausgezogen an diesem sonnigen Maitag. Der Krieg ist vorbei. Zum ersten Mal seit 1933 nähert sich Klaus Mann wieder dem Haus, das für ihn, seine Eltern und fünf Geschwister fast zwanzig Jahre Lebensmittelpunkt war. „Mein erster Eindruck: Da ist es noch! Es hat den Sturm überstanden! Aber das stimmte nicht. Wie so viele Gebäude in der Stadt hatte das Haus nur als leere Hülse überlebt.“

Auf einem Foto sieht man die Fensterhöhlen. Klaus Mann steht auf der Gartentreppe an der Südseite des Hauses, die Stufen sind zerstört. Er blickt zum Balkon im zweiten Stock hinauf, der den halbkreisförmigen Vorbau mit Steinsäulen krönt. Auch die sind größtenteils abgebrochen, das Dach ist durchlöchert, die meisten Ziegel sind herabgefallen. Dort oben war früher sein Zimmer.

„Es gelang mir, ins Haus zu kommen, und ich stellte sofort Veränderungen fest, die nichts mit dem Bombardement zu tun hatten.“ Im zweiten Stock trifft er auf eine Frau, die sich dort notdürftig eingerichtet hat. Klaus Mann, als US-Soldat mit den Siegern in München eingezogen, schreibt an seinen Vater in Kalifornien: „Es ist alles ziemlich bedrückend. Das Haus steht völlig leer.“

Er erfährt, wie es nach 1933 weiterging. 1936 wurde das Grundstück mitsamt Hab und Gut von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, Möbel und Hausrat inklusive Bär 1937 versteigert. Die Villa übernahm der geheimnisumwobene Verein „Lebensborn e. V.“. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, zu dessen besonderen Hobbys die Rassenlehre gehörte, hielt das Haus des Dichters für das ideale Ambiente, um einen Eliteverein für Arier zu beherbergen: Hier sollte die Jugend „im Sinne des Rasseideals gefördert“ werden.

Vier Mal wurde das Haus von amerikanischen Bomben getroffen. 1949 übergaben die Behörden Haus und Grundstück wieder an den früheren Besitzer Thomas Mann. Er erhielt 2.400 Mark Entschädigung für „entgangene Mieteinnahmen“.

Wenn es um die nähere Umgebung seines Hauses in München ging, duldete Thomas Mann keinen Widerspruch: „Das ist kein Wald und kein Park, das ist ein Zaubergarten, nicht mehr und nicht weniger.“ 1919, als er die Gegend, die noch heute Herzogpark heißt, in der Novelle „Herr und Hund“ beschrieb, stand seine Villa mit anderen Großbürgerhäusern am Rand einer Wildnis, direkt an der Isar. Und auch die lief noch nicht im schnurgeraden Stein- und Betonplattenkorsett an seinem Haus vorbei, sondern suchte sich ihren Lauf in einem breiten Flussbett.

Ich konnte Thomas Manns Enthusiasmus siebzig Jahre später gut nachvollziehen. 1984 fand ich durch eine Anzeige in der Zeitung eine Wohnung mit zwei Zimmern, Kochecke, Bad und Tiefgarage an der Ecke Mauerkircher-/Poschingerstraße. Die Zeitschrift, für die ich halbtags arbeitete, hatte ihre Redaktionsräume in einer alten Villa im oberen Teil von Bogenhausen. Ich stapfte immer den Zickzack-Weg zum Herkomerplatz hinauf und war zu Fuß in zehn Minuten an meinem Schreibtisch. Fenster und Loggia der neuen Wohnung gingen nach hinten raus, ich wohnte im Baumhaus.

Von Thomas Manns Anwesenheit in früheren Jahren wusste ich nichts. Es gab keine Hinweise, keine Gedenktafel. Mir war Thomas Mann oft ziemlich auf den Wecker gegangen mit seiner unverschämt ausgebreiteten Bildung. Was zum Teufel gingen mich die Probleme der Großbourgeoisie an? Aber je älter ich wurde, umso mehr lernte ich Manns Werk schätzen. Mir fiel auf, dass er nicht nur ein sehr klassisch schönes Deutsch schrieb, sondern auch sorgfältig und offenbar unermüdlich recherchiert hat. Ah, sieh an, dachte ich, als ich das Foto seines Hauses in der rororo-Monographie sah: Da hat er also gewohnt, der Zauberer! Gleich bei mir um die Ecke.

Der Herzogpark ist so fern der Wirklichkeit auf diesem Planeten, wie es eine reiche Wohngegend in einer Großstadt der so genannten Ersten Welt nur sein kann. Wobei reich hier nicht ausschließlich im Sinne von „viel Geld haben“ gemeint ist: reich an Bäumen, Sträuchern und Wiesen, Flussauen mit echter Wildnis, ein Paradies für Vögel, mit schönen alten Villen und halb verwilderten Gärten. Kultur ist, wenn die Häuser nicht höher sind als die Bäume.

Aber auch geldlich reich, wenn man die Bewohner meint. Hohe Zäune. Videokameras. Eigentumswohnanlagen der obersten Preiskategorie locken die Bestverdienenden. Die Dichte an Autos der Luxusklasse liegt deutlich höher als sonst wo in der Stadt. Sehr beliebt sind große Geländewagen. Auf eine frühere Entwicklungsstufe des Menschen deutet hin, dass die Frauen sich hier auffallend zahlreich in Tierfelle einhüllen, wenn sie aus ihrer Tiefgarage dieseln.

Der Name des Viertels geht auf den Wittelsbacher Herzog Max in Bayern zurück, der den Park am rechten Isarufer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erworben hatte. Die Landschaft war von Gartenarchitekt Friedrich von Sckell im englischen Stil umgestaltet worden. (Von Sckell, 1789 nach München gekommen, legte im Auftrag von Kurfürst Karl Theodor den Englischen Garten an. Die Jahreszahl weist auf den Grund hin: Der Park sollte dem Stadtvolk freien Auslauf in der Natur bieten, damit sie nicht auf so dumme Gedanken kamen wie die Revolutionäre in Paris.)

Thomas Mann war von der Lage hingerissen. Was scherte ihn „bürgerlicher Stumpfsinn, alias Gemütlichkeit, Leichtsinn und Schwabinger Literatur-Radikalismus“, und das, was er den „Niedergang Münchens als Kunststadt“ nannte. Seine Welt war die des aufgeklärten Großbürgertums, in das er eingeheiratet hatte.

Schon im Frühjahr 1911 waren die Manns von Schwabing in den Herzogpark umgezogen. Thomas Mann, ein leidenschaftlicher Spaziergänger, erkundete auf langen Wanderungen mit seinem Hund Bauschan die Landschaft zwischen seinem Haus und Unterföhring. Besonders fasziniert war er von dem Fährmann, der Ausflügler vom Englischen Garten nach Bogenhausen und wieder zurück brachte.

Am 7. März 1913 wurde der „Plan zur Erbauung eines Einfamilienhauses im Anwesen des Herrn Thomas Mann, Schriftsteller, Ecke Föhringer-Allee und Poschingerstr., Maßstab 1 : 100“ bei der Stadtverwaltung eingereicht. Die älteren Kinder, Klaus und Erika Mann, sieben und acht Jahre alt, verfolgten den Sommer über die Fortschritte beim Bau des Hauses. Die Lage war einmalig, die Nachbarn ebenfalls. Zu den Spielgefährten von Klaus und Erika gehörten die Kinder des Privatgelehrten Robert Hallgarten, des Historikers Erich Marcks und des Dirigenten Bruno Walter (mit dem Erika in den vierziger Jahren eine Liebesbeziehung einging, die von Mutter Katia sehr missbilligt wurde: „Mein Gott, wie kann man nur auf den verlogenen Greis versessen sein“, schrieb sie 1943 an Sohn Klaus).

Die Nachbarn pflegten ein reges Sozialleben mit gegenseitigen Einladungen, bei denen man sich beriet, wie die wilde Kinderclique gelegentlich zur Räson gebracht werden könnte. Thomas Mann sympathisierte mit den deutschen Kriegszielen. Er wanderte mit seinem Hund im „Zaubergarten“ Herzogpark, und schrieb, gegen Störungen abgeschirmt von Frau Katia, an seinem neuen Roman „Der Zauberberg“. Auch die beiden ersten Bände von „Josef und seine Brüder“ sind im Haus über der Isar entstanden.

Thomas Mann reist viel, hält Vorträge, engagiert sich gegen die Nationalsozialisten, wird bedroht. 1933, nach einem Vortrag in Amsterdam zu „Leiden und Größe Richard Wagners“, kehren Thomas Mann und seine Frau Katia nicht mehr nach Deutschland zurück.

Nur einmal kam er dann doch wieder in die Poschingerstraße 1. Seit dem Ende des Krieges waren sieben Jahre vergangen. Er lebte jetzt bei Zürich und war zu Besuch in der Stadt. Zum letzten Mal stand er, drei Jahre vor seinem Tod, an dem Ort, der ihm Heimat gewesen war. Im Tagebuch hielt er fest: „Auf meinen Wunsch Fahrt zum Herzogpark, Besuch bei den Fundamenten des niedergelegten Hauses. War bewegt und gedankenvoll.“

Auch der neue Bewohner des Hauses hat einige große Werke vollbracht. Zumindest lassen das die Redakteure des Managermagazins ihre Leser glauben. Der Artikel gerät richtig ins Schwärmen, wenn es um die allmähliche Verfertigung von DaimlerChrysler durch Alexander Dibelius aus dem Geist der Volkswirtschaftslehre geht: „Die transatlantische Fusion (der so genannte Merger of Equals) war sein Meisterwerk.“ Drunter tun die nichts. Die „Unternehmenskultur“ von Goldman Sachs formuliert Theodor Weimer, Partner von Dibelius im Investmentbanking: „Unsere Kultur ist getrieben vom Anspruch, zu den Besten gehören zu wollen.“ Auch ohne reines Deutsch.

Die Kundenliste von Alexander Dibelius liest sich wie das Who’s who der deutschen Wirtschaft: Adtranz, Bayer, Beck & Co., Conti, Dasa, Henkel, KPMG, TUI, Rheinmetall. Mit dem DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp ist er eng befreundet. Durchaus möglich, dass Dibelius ihn bald in sein neues Haus im Herzogpark einlädt.

HANS PFITZINGER, 59, Autor und Übersetzer, lebt in München. Eine längere Fassung des Artikels erscheint am 15. Juni in der Zeitschrift „Die Gazette“, www.gazette.de