Die Angst vor der Entdeckung

Erich Meyer ist vielleicht Bremens ältester Schwuler. Er erzählte niemandem davon, bis seine Frau ihn nach 33 Jahren Ehe verließ. „Irgendwie eine Befreiung“, sagt er heute

Die 78 Jahre sieht man Erich Meyer nicht an. Die Augen des gebürtigen Bremers blitzen, als er seine Lebens-Geschichte erzählt – die Geschichte eines Mannes, der seine Homosexualität weit über die Hälfte seines Lebens verbarg, den oft Ängste plagten und der heute doch zufrieden zurück schaut. Eine Geschichte, die auch eine Geschichte der Homosexualität in Bremen ist und zeigt unter welchen Zwängen viele Menschen leben.

Erich Meyer merkt früh in seinem Leben, dass ihn Jungs mehr faszinieren als Mädchen. „Mit 14 habe ich einen Jungen aus meiner Straße kennengelernt, und wir haben ein wenig rumgeschmust“, erzählt er. Das sei so um 1930 herum gewesen. „Uns war nicht wirklich klar, was mit uns los war, ob wir schwul sind oder das nur eine pubertäre Spielerei war“, erzählt Meyer. Schnell zeigt sich, dass es für ihn mehr ist. Niemand weiß davon. „Wenn das jemand gemerkt hätte, wären meine Eltern ins Gefängnis oder KZ gekommen“, sagt Meyer, der damals selbst voller Ängste ist. Ausleben kann er seine Sexualität nicht. „Ich traute mich nicht mal richtig nach Jungs zu gucken, weil ich dachte, jemand könnte was merken“, sagt Meyer, dem bald die Lust noch mehr vergeht. „An der Front oder im Lazarett, wenn man Kameraden sterben sieht, da vergeht einem alles. Da hat man einfach keine sexuellen Gefühle mehr“, meint Meyer, der in amerikanischer Gefangenschaft zunächst auf einem Bauernhof aushilft. Zu dem Bauerssohn in seinem Alter, habe er sich hingezogen gefühlt. Sie hätten in einem Bett geschlafen, miteinander geschmust. „Mehr war da nicht“, sagt Erich Meyer. Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, dass Meyer schwul ist. Er traut sich nicht, mit jemandem zu sprechen, hat Angst vor dem Paragrafen 175, der sexuellen Kontakt zwischen Männern unter Strafe stellt.

In den 50er Jahren habe es im öffentlichen Leben keine Homosexuellen gegeben. „In meinem Turnverein war einer, von dem ich später erfahren habe, dass er schwul ist“, sagt Meyer, den Turnfreunde schließlich mit einer Sportsfreundin verkuppeln. Erich Meyer ist 28 Jahre alt und hat noch nie eine Frau angefasst. Doch er gibt nach, obwohl er weiß, dass er seine Frau nicht glücklich machen wird. 1957 heiraten die beiden. „Notgedrungen“, sagt er heute. Und, dass er seine Frau betrogen habe, weil er oft beim Sex an Männer gedacht habe. Über Intimitäten habe er mit seiner Frau nie gesprochen. „Meine Frau wird aber was geahnt haben“, vermutet er heute.

Heimlich kauft sich Erich Meyer das Heft „Du und ich“, liest Annoncen und kommt so in den 70er Jahren in ein Szenelokal. Doch wieder siegt die Angst, es bleibt bei ein paar Besuchen.

1989 dann die Trennung. „Meine Frau sagte mir, dass sie auszieht, ohne einen Grund zu nennen“, erklärt Erich Meyer. Und schnell kommt die Erleichterung. Irgendwie erfährt Meyer von dem Verein Rat und Tat, geht 1989 das erste Mal hin, in eine Selbsthilfegruppe. Mit geänderten gesellschaftlichen Bedingungen hatte das nichts zu tun, sagt er. „Das kam aus mir heraus.“ Seitdem kommt Erich Meyer regelmäßig. Plötzlich hat der 63-Jährige keine Lust mehr, etwas zu verstecken. Als er von Arbeitskollegen gefragt wird, wie es zu Hause läuft, sagt er: „Meine Frau ist ausgezogen und ich lebe jetzt als schwuler Single.“ Und seine Kollegen? „Die sagten gar nichts weiter dazu. Da war ich überrascht“, erzählt Meyer.

Einen dauerhaften Partner hat er nicht gefunden. Jetzt fühlt er sich zu alt dafür. Doch Erich Meyer bedauert nicht, wie sein Leben verlaufen ist, das Rad der Zeit würde er nicht zurückdrehen wollen, auch wenn er könnte. Angst hat er nicht mehr. „Ich bin vielleicht Bremens ältester Schwuler. Aber es gibt bestimmt noch viele, die nicht in der Szene sind. Gerade Ältere haben einfach immer noch Ängste.“ ky