Ein Land verlernt den Frieden

Ein toter gemäßigter Rebellenchef, eingeschüchterte oder verschleppte Menschen und ein 28-jähriger Machthaber: Tschetschenien ist dauerhaft instabil

AUS GROSNY UND TOLSTOI-YURT KLAUS-HELGE DONATH

Im Konferenzraum stehen zwei Fahnen, die russische und die tschetschenische. Sie haben sie eigens für das Interview hereingetragen. Es sind die Insignien der Macht des Ramsan Kadyrow. Er ist erst 28 Jahre alt, aber als Vize-Regierungschef der starke Mann in Grosny. Er gebietet über eine Soldateska von mehreren tausend Mann. Menschenrechtler legen ihm und seinen Schergen unzählige Morde und Entführungen zur Last. Sie werden auch im Zusammenhang mit dem Tod Aslan Maschadows genannt, des einzigen Präsidenten, den die Tschetschenen seit der russischen Kolonialisierung selbst wählen durften. Kadyrow sagt über Maschadows Tod: „Für uns Tschetschenen macht es schon lange keinen Unterschied, ob Maschadow nun lebt oder tot ist.“

Das ist auch die offizielle Linie Moskaus. Für Chawe Chirsrjewa aus Petropalowskaja macht es jedoch einen Unterschied. Als sie vom Tod Maschadows erfahren habe, habe sie geweint, sagt sie. Die Mutter von sieben Kindern, deren Mann vor einem Jahr spurlos verschwunden ist, ist kein Einzelfall. Viele Tschetschenen sind bestürzt über den Tod des legitimen Präsidenten, der im März bei einer mysteriösen Vernichtungsaktion in dem Dorf Tolstoi-Yurt getötet wurde. Er verkörperte für das Volk Selbstachtung und Würde. Sein würdeloser Tod hat die Menschen verletzt.

Laut offizieller Darstellung hatte der Separatistenchef im Hause eines entfernten Verwandten in Tolstoi-Yurt Unterschlupf gesucht, bevor ihn im März eine russische Spezialeinheit beseitigte. Die amtlichen Erklärungen unmittelbar danach strotzten allerdings von Widersprüchen. Eine andere Version besagt, Maschadow sei von Kadyrows Leuten ermordet und erst später nach Tolstoi-Yurt geschafft worden. Aus Angst vor Rache der Rebellen habe der Vizepremier die Russen gebeten, den Mord auf ihre Kappe zu nehmen.

Die Einwohner haben Angst. Kaum jemand ist bereit zu erzählen, was er an jenem Tag erlebt hat. Für das Dorf, das bislang vom Krieg verschont blieb, kam die Aktion überraschend. Tolstoi-Yurt versagte im Unabhängigkeitskrieg vor zehn Jahren dem Separatistenführer die Gefolgschaft und gilt als Hochburg der Moskautreuen. Warum sollte sich der ehemalige Präsident ausgerechnet in der Höhle des Löwen verschanzen? Raman Bolathijew, der Imam des Dorfes, glaubt nicht an die Version, die ihnen aufgetischt wurde. Er habe viele Leichen gesehen, sagt der 79-Jährige: „Der Maschadow, dessen Leiche sie im Fernsehen zeigten, war schon einige Tage tot.“

Verschwunden ist seither Musa Yussupow, der den Flüchtigen in seinem Haus versteckt haben soll. Die Rebellen behaupten, die geschundene Leiche sei Tage später gefunden worden. Tschetscheniens Innenministerium und die Polizei dementieren, ohne etwas über den Verbleib Yussupows angeben zu können. Auch die Familie wartet vergeblich auf ein Lebenszeichen. Aus Angst vor Repressalien verzichteten die Yussupows darauf, Vermisstenanzeige zu erstatten. Das sei kein Einzelfall mehr, stellten die Menschenrechtsorganisationen Memorial und Human Rights Watch fest. Wer Entführungen meldet, muss damit rechnen, selbst abgeholt zu werden. „Aus Angst, sie könnten auch die beiden anderen Söhne holen, habe ich nichts unternommen“, meinte eine Mutter zu Human Rights Watch, die anonym bleiben wollte. Immer häufiger weigern sich Angehörige, mit Menschenrechtlern zusammenzuarbeiten.

Im Januar räumte der Sekretär des tschetschenischen Sicherheitsrates, Rudnik Dudajew, ein, dass Entführungen ein bislang ungekanntes Ausmaß erreicht hätten. Rund 500 Leute seien 2004 verschwunden. Was steckt hinter dieser Offenheit? Zynismus oder Ratlosigkeit? Die Beweise sind erdrückend, die die Verbrechen den Todesschwadronen Ramsan Kadyrows, nicht selten im Zusammenspiel mit russischen Sicherheitsorganen, anlasten. Auch Frauen und Minderjährige werden immer häufiger entführt, seit tschetschenische Selbstmordattentäterinnen Terroranschläge verüben. Über 1.800 Entführungsfälle seit Kriegsbeginn 1999 gab auch der Vorsitzende des tschetschenischen Staatsrates Taus Dschabrailow zu. Ermittlungen wurden in 1.814 Fällen eingeleitet, ohne dass indes ein einziger Täter bestraft worden wäre. Angst und Terror sind allgegenwärtig, schlimmer als zu Kriegszeiten.

Viele fürchten daher, der Terrorist Schamil Bassajew werde neuen Zulauf erhalten. Er kündigte auf einer Internet-Seite der Rebellen an, er sehe sich nach dem Tod Maschadows nicht mehr zu Zurückhaltung verpflichtet.

Die russischen Sicherheitskräfte haben die Truppenstärke um 5.000 auf 80.000 Mann erhöht. Still und leise, da das Bild der Normalisierung sonst verzerrt werden könnte. Die Aufstockung der Truppen, meint ein der Regierung nahe stehender Beobachter, sei aber schon letztes Jahr gelaufen und diene nicht dem Kampf gegen den Terrorismus. Viel größer sei in Moskau die Furcht vor den Landsknechten Kadyrows, die sich keiner Befehlsgewalt unterordnen. Reift im Zug der Normalisierung ein neuer Gegner heran ?

„In Wirklichkeit sind wir vom Frieden weit entfernt, die Lage ist sehr instabil“, meint der Chef eines Landkreises. Und ein Mitglied des Staatsrates fügt hinzu: „Maschadow war populär und der Einzige, mit dem wir Friedensverhandlungen hätten führen können.“ Daher hätten ihn Kadyrow und seine Leute umgebracht. „Er wurde ausgeschaltet, um die eigene Macht zu erhalten.“