„Soll dies schon die Normalität sein?“

Moskau schwafelt von Normalisierung und der Präsident gar von einer Blüte Tschetscheniens. Doch die Einwohner Grosnys leben in Ruinen. Die Behörden sind korrupt

GROSNY taz ■ „Vom Lärm der Ratten in den Abflussrohren können wir nachts kaum schlafen“, erzählt Chadische Besultanowa. Die Mutter von drei Kindern lebt in einer kleinen, notdürftig geflickten Wohnung am Olympischen Prospekt in Grosny. Im Keller der Halbruine schwappt die Kloake, mit jedem Tag steigt der Pegel. Draußen neben der Müllhalde zapft sie Trinkwasser. „Uns allen geht es gesundheitlich schlecht“, sagt sie. Dutzende Eingaben habe sie schon geschrieben.

Wie Chadische Besultanowa leben die meisten Einwohner der tschetschenischen Hauptstadt unter unsäglichen Bedingungen. „Normalisierung“ nennt Moskau nun schon seit drei Jahren die Bemühungen, das verwüstete Land im Kaukasus wiederzubeleben. Die Mehrheit der Tschetschenen bleibt aber skeptisch. „Zwar gibt es keine offenen Kriegshandlungen mehr“, meint eine Lehrerin, „doch soll dies schon Normalität sein?“

Um zum Sitz der moskautreuen Regierung zu gelangen, muss man drei Befestigungsringe aus Betonquadern, Stacheldraht und Kontrollpunkten passieren. Aus Angst vor Anschlägen der Rebellen hat die russische Armee das Gebiet auf einem ehemaligen Fabrikgelände in eine Festung verwandelt. Die Gebäude sind frisch renoviert, dennoch herrscht eine bedrückende Atmosphäre. Von Normalität kann keine Rede sein. Versteckt sich die Führung vor dem Volk? Präsident Alu Alchanow weist dies im Gespräch entschieden zurück: „Das tschetschenische Volk hat seine Wahl für einen neuen Kurs des Friedens und neuer Blüte getroffen. Zunächst mit der Abstimmung über unsere Verfassung und zuletzt mit meiner Wahl zum Präsidenten“, sagt der von Moskau eingesetzte Staatschef.

Alchanow ist nicht zu beneiden. Letzten Sommer zwang ihn der Kreml, die Nachfolge des ermordeten Präsidenten Achmed Kadyrow anzutreten. Dessen Sohn, Vizepremier Ramsan, ist der heimliche Herrscher in Grosny.

Ramsan fürchten die Tschetschenen. Alchanow lässt die Menschen eher gleichgültig, manche empfinden sogar ein wenig Mitleid. „Was soll er machen ? Moskau hat ihn auserkoren und schreibt ihm alles vor“, sagt eine Händlerin auf dem Markt. „Er entscheidet nur, wann er zur Toilette geht.“

Macht bedeutet vor allem großes Geld. Auf der Flaniermeile der Kadyrows in Gudermes, die am Boxclub Ramsan vorbeiführt, hat der stellvertretende Regierungschef ein Juweliergeschäft eröffnet. Gold und Diamanten im Wert von 8.000 bis 19.000 Dollar liegen in der Vitrine. Die guten Stücke, Colliers zu 50.000 Dollar, meint die Verkäuferin schüchtern, seien leider alle ausverkauft. „In Tschetschenien gibt es genug Männer mit genug Geld.“

Hassan gehört nicht dazu. Der Jurist verdient sein Geld als Fotograf auf dem Platz des Ölarbeiters in Grosny, der als einziger Ort wiederhergerichtet worden ist. Er würde gerne bei der Polizei oder beim Wachschutz der Ölpipelines arbeiten. Die Jobs kann er sich aber nicht leisten, 1.500 bis 3.000 Dollar müsste er den Chefs für den Arbeitsplatz zahlen. Die von Moskau versprochene Entschädigung für die zerstörte Wohnung hat er auch nicht erhalten. Wie den meisten Tschetschenen fehlen ihm die 500 Dollar, die der Sachbearbeiter verlangt, um das Formular überhaupt entgegenzunehmen. Ohnehin würde er nur die Hälfte der Entschädigung erhalten, die andere steckt der Beamte ein.

Davon überzeugte sich auch Abu Berijew, dessen Eltern vor dem ersten Tschetschenienkrieg 1994 nach Kasachstan geflohen waren. Jetzt schickten sie ihn in die Heimat, um zu prüfen, ob sie nicht wieder heimkehren könnten. Der 21-Jährige verbrachte einen Monat in Grosny. Sie wird den Eltern raten, mit der Rückkehr noch zehn Jahre zu warten. KLAUS-HELGE DONATH