Zwei Lehrer, zwei Sprachen

taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 6): An der Aziz-Nesin-Grundschule lernen die Kinder auf Deutsch und Türkisch Lesen und Schreiben. Das stärkt Selbstbewusstsein, Motivation und Toleranz

VON SABINE AM ORDE

Deutsch hat Priorität. Die Muttersprache ist für den schulischen Erfolg von Migrantenkindern zweitrangig. Dieses Denken hat sich durchgesetzt: in der Politik, aber auch an Kitas und Schulen, bei deutschen und nichtdeutschen Eltern. An der Aziz-Nesin-Grundschule ist das anders. Zweisprachigkeit und Interkulturalität sind hier von morgens um acht bis nachmittags um vier Konzept. Die Schule in der Kreuzberger Urbanstraße ist eine von insgesamt 16 bilingualen Europaschulen der Stadt. Ihr Schwerpunkt: die deutsch-türkische Zweisprachigkeit.

Es ist kurz vor zehn, in der 1 c steht Sprachunterricht auf dem Stundenplan. Heute geht es um das K, das im Deutschen und Türkischen sehr ähnlich funktioniert. Die 22 Erstklässler probieren den Laut aus, schreiben den Buchstaben mit dem Finger in die Luft, lesen in Zweiergruppen einen deutschen Text: Zwei Kinder fürchten sich, nachdem sie im Fernsehen einen Krimi geguckt haben. So weit ist alles wie in vielen anderen Grundschulen.

Dann aber teilen sich die Kinder in zwei Gruppen auf – nach ihrer so genannten Schwerpunktsprache. Auf Deutsch oder Türkisch wird, je nach Gruppe, der Text besprochen, über Ängste geredet und was man dagegen tun kann. Mit dabei ist je eine der beiden Klassenlehrerinnen: Sigrid Masuch bei der deutschen, die hier blaue Gruppe heißt, ihre türkischstämmige Kollegin Ayse Bardak bei der roten.

Die Aufteilung der Kinder ist nicht leicht: Es gibt an der Schule zwar „rein deutsche“ und „rein türkische“ Kinder, die meisten der 360 SchülerInnen aber sind diesen Kategorien nicht eindeutig zuzuordnen. Deshalb werden bei der Anmeldung die Sprachkenntnisse von Eltern und Kindern unter die Lupe genommen: Wer besser Deutsch kann, bekommt Deutsch als Schwerpunktsprache, Türkisch wird als so genannte Partnersprache gelernt. Beim Rest der Kinder ist es umgekehrt. Nach dem Konzept der Europaschulen soll je die Hälfte einer Klasse aus deutschen und – in diesem Fall – türkischen Muttersprachlern bestehen. „Das ist der Idealfall“, sagt Schulleiterin Christel Kottmann-Menz. Die Realität ist komplizierter.

In der 1 c sind die Gruppen gleich groß, wenn auch nicht nach der reinen Lehre zusammengesetzt. Mit zehn bis zwölf Kindern und einer ihrer zwei Lehrerinnen lernen die Erstklässler Lesen und Schreiben: Zunächst in ihrer Schwerpunktsprache, die andere kommt später langsam dazu. Ganz neu ist auch diese nicht: Mit ihr sind fast alle SchülerInnen schon zu Hause, in der Kita oder der Vorklasse in Berührung gekommen. Bis zu zwölf Stunden Sprachunterricht haben die Aziz-Nesin-Kinder pro Woche, sieben mehr als an einer normalen Grundschule. Alle anderen Fächer werden gemeinsam unterrichtet. Mathematik auf Deutsch, die Sachfächer auf Türkisch. „Es wird nicht übersetzt, es wird ergänzt“, erklärt Klassenlehrerin Masuch das Prinzip. Der Unterricht soll sich aufeinander beziehen. Wenn in Sachkunde also die Steinzeit Thema ist, geht es im Deutschunterricht um die entsprechenden Vokabeln. „Dann arbeite ich zu“, sagt Masuch.

Seit knapp zehn Jahren wird in der Aziz-Nesin-Grundschule die Bilingualität praktiziert, im Januar wird das Jubiläum begangen. Lange hatten engagierte Eltern und PädagogInnen dafür gekämpft. In Politik und Schulen blickte man skeptisch auf die deutsch-türkische Zweiprachigkeit: Französische, spanische und italienische Europaschulen waren gern gesehen. Aber eine türkische? Die hielt man bestenfalls für unnötig.

Einer der Eltern, die sich für die neue Schule einsetzen, war Özcan Mutlu, heute bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus. „Ich wollte, dass die Schule die türkische Seite meiner Kinder als Ressource begreift und nicht als Defizit“, sagt der Vater. Das motiviere die Kinder und führe zu besseren Schulleistungen. Zudem, so Mutlu weiter, fördere die Schule die gegenseitige Akzeptanz: „Die Kinder lernen von Anfang an, dass es eine große Vielfalt gibt.“

Nach langem Kampf und einer kurzen Zwischenstation am Fraenkelufer landete die Schule schließlich im heutigen Gebäude an der Urbanstraße. Das war ursprünglich nur als Übergangsbau für die Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule geplant, die dringend saniert werden musste. Wirklich gemütlich ist das Haus dementsprechend nicht. Besonders im Winter werden die Räume nicht richtig warm, der Schulhof ist zubetoniert. Für Änderungen mangelt es am Geld. Die Eltern würden das gerne ändern, nehmen es aber hin.

Zum internen Streit kam es aus einem ganz anderen Grund: dem Schulnamen. Als man sich für den kritischen Autor und Reformpädagogen Aziz Nesin als Namensgeber entschied, meldeten zahlreiche konservative türkische Eltern ihre Kinder ab.

Wie gut die Arbeit konkret funktioniert, hängt stark von den beiden LehrerInnen ab, sagt Klassenlehrerin Masuch. Sind sie ein gutes, gleichberechtigtes Team, ist schon viel gewonnen. Ein strukturelles Problem gibt es dabei: Die türkischstämmigen LehrerInnen haben fast alle in der Türkei studiert, deshalb bekommen sie weniger Gehalt als ihre deutschen KollegInnen. Ganz glücklich ist ein Teil der Eltern auch aus einem anderen Grund mit dieser Struktur nicht: Man merke einigen türkischstämmigen Lehrkräften ihre Ausbildung noch immer an, heißt es: Sie seien autoritärer als ihre in Deutschland ausgebildeten KollegInnen.

Während von den Lehrkräften tatsächlich die Hälfte türkischstämmig ist, sind es bei den ErzieherInnen nur 6 von 23. „Das liegt daran, dass wir immer Kräfte aus dem Überhang nehmen müssen, und die kommen meist aus dem Ostteil der Stadt“, sagt Schulleiterin Kottmann-Menz. Deshalb klappt es mit der Zweisprachigkeit im nachmittäglichen Freizeitprogramm der Ganztagsschule nicht: Hier wird zu viel Deutsch gesprochen.

Dennoch scheint die Aziz-Nesin-Grundschule erfolgreich zu sein. Die Hälfte der Kinder schließt mit einer Gymnasialempfehlung ab, weitere 30 Prozent mit der für die Realschule. Damit ist die Schulleiterin sehr zufrieden. Auch bei den landesweiten Vergleichsarbeiten in den Klassen 2 und 4 hätten ihre SchülerInnen „ganz gut abgeschnitten“, sagt Kottmann-Mentz.

Die Voraussetzungen der Kinder sind auch nicht schlecht: Viele stammen aus der Mittelschicht, der deutschen und der türkischen. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern gibt es kaum. Eine solide Untersuchung allerdings, die zeigt, wie es um die Deutschkenntnisse der Aziz-Nesin-Kinder im Vergleich zu denen anderer SchülerInnen steht, gibt es bislang nicht.

Viele der Aziz-Nesin-Kinder wechseln nach der Grundschule auf die benachbarte Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule, die eine zweisprachige Klasse weiterführt. Die erste Generation kommt nach den Sommerferien in die zehnte Klasse. Bis zum Ziel der Europaschulen, dem zweisprachigen Abitur, das in beiden Ländern anerkannt wird, ist es also noch ein weiter Weg.