Die Geschworenen glaubten dem Kind

Mit Freispruch in allen Punkten der Anklage endete ein bizarrer Prozess gegen eine bizarre Person. Weil der junge Gavin Arvizo der falsche Zeuge war, entschied die Jury zugunsten eines anderen Kindes: Michael Jackson

von HENNING KOBER

Für einen Moment scheint die Zeit zu frieren. Dann flüchtet sie umso schneller. Die Jury in Santa Maria hat ein Urteil gefällt. In einer Stunde soll es verkündet werden. CNN sendet das Bild der Jackson-Kolonne auf dem Freeway 101, verfolgt aus einem Hubschrauber. Es wird gegeben: der letzte Akt in der bis dahin gewaltigsten, globalen Prozessshow.

Seit über einem Jahrzehnt schon ist Bezirksstaatsanwalt Thomas Sneddon überzeugt, dass Michael Jackson ein Pädophiler ist. Und dafür bestraft werden muss. Nun ist es anders gekommen. Am Montag um 14.13 Uhr Ortszeit in Santa Maria hört die Welt live via Tonübertragung aus Saal 102: „Not guilty“. Die Stimme der Protokollführerin klingt hoch und brüchig, als sie den Freispruch in allen Anklagepunkten verkündet (siehe Kasten). Vor dem Gericht in der Miller Street taumeln die Die-Hard-Fans. Mädchen schreien. Konfetti schießt in die Luft. Eine Blondierte lässt zu jedem Freispruch weiße Tauben in den Himmel steigen.

Wenige Minuten später taucht das Gesicht des Angeklagten ins Bild. Michael Jackson, in den letzten Wochen um 30 Pfund abgemagert, die Augen versteckt hinter einer hellblauen Ray-Ban, winkelt starr den Arm zum Gruß. Der Mann, einst zu einem Gott erhoben, wird aus dem Gericht geführt wie ein kleines Kind. Links sein gewalttätiger Vater, rechts seine streng an Jehova glaubende Mutter. Er sieht schrecklich schwindsüchtig aus, wie der Patient eines Schweizer Sanatoriums.

Die Entscheidung der Jury kann als Moment der Menschlichkeit gelten. Kaum vorstellbar, dass dieser zerbrechliche Körper bis zu 20 Jahre Gefängnis ausgehalten hätte, in einer Zelle neben Charles Manson. Sobald Jackson wegfährt, liefert CNN wieder die Fetisch-Bilder: Helikopter über den schwarzen SUVs auf dem Freeway.

Der konsumierbare Gott

Es waren die Massenmedien, die im O.-J.-Simpson-Fall zum ersten Mal der Öffentlichkeit das Gefühl gaben, selbst das Urteil fällen zu können. Im Verfahren gegen Jackson war das anders: Pädophilie ist für die Mehrheit ein unsicheres Terrain, zu einer ernsthaften Diskussion über dieses Problem kam es nicht. Und auch nicht darüber, wer eigentlich aus Jackson den konsumierbaren Gott gemacht hat, der sich in die monströse Gestalt wandelte, die uns heute im Fernsehen begegnet.

Die Masse der 3.000 Journalisten, die das Spektakel in Santa Maria beobachteten, mehr als doppelt so viel wie im Präzedenzfall Simpson, hielt sich denn auch konsequent mit der Oberfläche auf. Hierzulande erzählte die Bild-Zeitung genüsslich von Krankenhaus, Pleite, Porno, Kindersex. Mit der Realität des Jackson-Falles hat das wenig zu tun. Sie ist viel komplizierter, zu kompliziert. Stellvertretend für die Öffentlichkeit mussten also acht Frauen und vier Männer entscheiden.

Ihre Entscheidung war schwer zu prognostizieren. Der Verteidigung war es gelungen, die Glaubwürdigkeit der Arvizo-Familie in Zweifel zu ziehen. Vor allem die Mutter hatten einen schlechten Auftritt vor der Jury. Sie bestand, frisch angeheiratet, auf ihrem grotesken neuen Namen Janet Jackson. Sie musste zugeben, unter Eid gelogen zu haben, als sie in einem Prozess gegen ein Kaufhaus 163.000 Dollar wegen sexueller Belästigung erstritt – gestützt auf Falschaussagen ihrer Kinder.

Immerhin war es der Staatsanwaltschaft gelungen, fünf frühere Fälle sexueller Belästigung Jacksons von Minderjährigen zu thematisieren. Die Jury hörte die Aussage der Mutter von Jordie Chandler, dem 1993 für sein Schweigen 20 Millionen Dollar bezahlt wurden. Sie hörten die Schwester von Brett Barnes, die erzählte, wie ihr Bruder mehr als 350 Nächte mit Jackson verbrachte. Sie hörten Jason Franica, der unter Tränen erzählte, wie er als Siebenjähriger von Jackson missbraucht wurde. Doch am Schluss hielt sich die Jury offenbar an die Warnung, die Thomas Mesereau in seinem Schlussplädoyer ausgesprochen hatte: „Sofern Sie nur den leisesten Zweifel haben, müssen Sie den Angeklagten freisprechen.“

Vor allem der Auftritt von „Janet Jackson“ hatte einen verheerenden Eindruck hinterlassen. Eine Jurorin sagte in der Pressekonferenz: „Sie hat mich so angestarrt, das war unangenehm.“ Die mit 79 Jahre älteste Jurorin, eine resolute Witwe, wird noch deutlicher: „Als sie mit den Fingern nach uns schnipste, dachte ich, das machst du nicht, junges Fräulein.“ Dann zwinkert sie den Journalisten zu. In 90 Tagen darf sie ihre Geschichten vermarkten.

Das Einvernehmen, das die Jury-Gruppe noch während der Pressekonferenz suggeriert, erweist sich schon wenig später als falsch. Larry King hat den 63-jährige Raymond Hultman im Interview. Der grauhaarige Bauingenieur spricht langsam, wägt seine Wort ab: „Ja, vermutlich hat Jackson Jungen belästigt.“ Dann bricht es aus ihm heraus: „Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann 365 Tage mit einem Kind im gleichen Bett schläft und es soll nichts mehr als Fernsehen und Popcorn passiert sein.“ Der Mann hat gerade Michael Jackson freigesprochen.

Das Dilemma der Jury: Sie glaubte, Jackson nur dann verurteilen zu können, wenn der absolut zweifelsfrei seinem 13-jährigen Freund zweimal nachts die Hand in die Hose gesteckt hat. Selbst wer da von der Richtigkeit der Vorwürfe überzeugt ist, könnte 20 Jahre Gefängnis für eine zu hohe Strafe halten. Ohne Zweifel, dem Jungen ist Schrecklicheres widerfahren, seine Krebserkrankung, dieser Prozess zum Beispiel. Doch für die Gefühle des inzwischen Weltbekannten hat sich sowieso nie jemand interessiert.

Der Glanz der Prominenz

Vielleicht haben sich manche Juroren auch zu sehr von der Person Michael Jackson blenden lassen, wie Vanity Fair-Autorin Maureen Orth kritisiert: „Da gab es Frauen, die regelrecht hyperventilierten.“

In den USA ist gerade ein neues Buch erschienen, „The Man Behind The Mask“, das daran erinnert, was Victor Gutierrez schon in „Michael Jackson Was My Lover“ beschrieben hat. Es sind die Geschichten von über einem Dutzend Jungen. Alle zwischen sieben und 13, alle aus zerrütteten Elternhäusern, die für eine Zeit Michael Jackson sehr nahe waren. Deren Eltern oder sie selbst später Geld, Autos oder Karrieren geschenkt bekamen. Das Buch hat Bob Jones geschrieben, der seit 1987 Jacksons Pressesprecher und einer seiner engsten Vertrauten war, zusammen mit dem Los Angeles Times-Reporter Stacy Brown.

Ist Michael Jackson also doch ein Pädophiler? Dieser Eindruck wird bleiben. Was würde passieren, wenn Michael Jackson sich mit seiner Liebe für minderjährigen Jungen in die Hände eines Therapeuten begeben würde? Hätte er das vielleicht schon vor Jahren gemacht, wäre das Thema in den letzten zwei Dekaden nicht zum größten Tabu der westlichen Gesellschaft geworden?

Die Wirklichkeit sieht anders aus: „Mad Dog“ Tom Sneddon tritt vor die Presse. Da steht ein geschlagener Mann, der seine Enttäuschung kaum verbergen kann und immer wieder auf seine 37-jährige Amtszeit verweist: „Ich werde nicht zurücktreten.“ Derweil erzählt Uri Geller einem anderen Sender, wie er Jackson hypnotisierte und der ihm anvertraut habe, er könnte nie ein Kind verletzen – wohl eine Definitionsfrage.

Inzwischen ist die Kolonne der Jacksons auf Neverland angekommen. Im Taumel geht fast der interessante Halbsatz unter, den Jacksons neue Pressesprecherin Depra Opri in die Mikros spricht: „Der Junge war einfach der falsche Zeuge.“

Auf der von Jacksons Bruder Randy betriebenen Website MJJsource.com läuft ein Videoclip, der den Tag des Freispruches in eine Reihe stellt mit der Geburt Martin Luther Kings, der Freilassung Nelson Mandelas und dem Fall der Berliner Mauer.

In der Miller Street, vor dem Gericht, verscheuchen die euphorisierten Fans den pädophilen Aktivisten Jake Byrd. Der Mann fährt auf einem weiß gestrichenen Roller, dem „Innocent Mobile“, und hat gerade einem Reporter in den Block diktiert: „Es ist ein großartiger Tag für alle Erwachsenen, die mit kleinen Jungs schlafen. Tut es einfach.“