Mit großer Filmcrew inszeniert

Die Fiktion des Dokumentarischen demontieren, die Konstruktion der filmischen Fiktion dokumentieren: Der Hamburger Kunstverein zeigt in einer ersten deutschen Einzelausstellung die Film- und Fotoarbeiten des Londoner Künstlers Mark Lewis. Im Beiläufigen verweist er immer auch auf soziale Utopien

VON HAJO SCHIFF

Eine Frau und eine Mann im lebhaften Gespräch auf der Straße vor einem Restaurant: Diese durch ein Fenster beobachtete Alltagsszene ist der filmischen Erfassung kaum wert. Jedenfalls nicht außerhalb eines größeren Handlungsablaufs und schon gar nicht ohne Ton, so wie der kanadische Medienkünstler die Szene Mark Lewis projizieren lässt.

Doch irgendetwas ist seltsam, zwingt zum genaueren Hinsehen auf diese kurze Filmszene. Die Körpersprache der beiden irritiert, da sie so gar nicht aufeinander reagiert. Erst als ein Lieferwagen verzerrt durch das Bild fährt, wird klar: Der Mann hat mit der Frau gar nichts zu tun, er steht in Wirklichkeit hinter ihr, nur eine Spiegelung hat ihn zu ihrem Partner gemacht. Doch Wirklichkeit ist ein Begriff, der in dieser Ausstellung des Film- und Fotokünstlers aus Kanada zusehends abhanden kommt. Denn die nie länger als eine Filmrolle dauernden Loops demontieren die Fiktion des Dokumentarischen und dokumentieren die Konstruktion der filmischen Fiktion.

In seinen vier bis sieben Minuten lagen Kurzfilmprojektionen untersucht der 1957 geborene Künstler die Filmsprache von Abspann bis Zoom, ohne dass dies einen lehrhaften Charakter bekommt. Vielmehr scheinen sich manche der sparsam bewegten Bilder mit der Malerei zu messen, der Schwesterkunst, auf die Mark Lewis in den letzten Jahren stets mehr Gewicht legt. Bei „Algonquin Park, Early March“ entwickelt sich aus einer monochrom weißgrauen Bildfläche der Winterhimmel über einigen Tannen im Schnee. Doch der weiterlaufende Rückwärtszoom zeigt, dass auch diese Bildinterpretation falsch ist. Indem langsam im scheinbaren Himmel Kilometer entfernte Wälder sichtbar werden, stellt sich das ursprünglich leere Bildfeld als verschneiter See heraus, sogar mit einem Eishockeyfeld. Über diese Verschiebungen der Wahrnehmung scheint hier mit kunstgeschichtlichem Blick die abstrakte Malerei auf die Romantik zurückgeführt und diese mit dem Realismus konfrontiert. Unter solchem Blick misst sich dann das Hundegewimmel in „Off Leash, High Park“ mit den Bildern des Tachismus und des „All over“.

Wie zufällig auch immer diese Kurzfilmeinstellungen wirken, alle sind mit großer Filmcrew genauestens inszeniert. Mark Lewis betrachtet die professionellen Vorgaben der 35-mm-Kinoproduktion als wesentlichen Bestandteil seiner Arbeitsweise und seiner Ästhetik. Doch das Filmische muss nicht nur im Film gefasst werden. Langsam, forschend und fotografierend nähert sich Mark Lewis seinen Drehorten an. Dies sind meist relativ unspektakuläre Nichtorte, abgeschriebene oder vergessene Plätze, Bauten des Modernismus vor dem Abriss, noch geschlossene Sextheater oder einsame Windkraftfelder. Dort entstehen neben den oft handlungsarmen Filmbildern die als „Location Photos“ bezeichneten Einzelbilder. Es sind Aufnahmen von eher melancholischen Örtlichkeiten, die eigentlich nur interessant scheinen, indem sie den unmittelbar bevorstehenden Beginn einer Handlung suggerieren.

Die Fotobilder sind für Marc Lewis genauso wichtig wie die Filme. In der Ausstellung im Hamburger Kunstverein, seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland, werden die überwiegend offen im Raum projizierten neun Filme konsequent gleichwertig mit den Fotoserien gezeigt. Das setzt geschickte Lichtregie voraus, und die ist auch auf für die Betrachter angenehme Weise gelungen. Dennoch üben die Projektionen eine größere Sogwirkung aus: Von Bewegung, auch von nur geringer, wird das menschliche Auge immer unwiderstehlich angezogen.

Wie im Fluge fährt die Kamera mittels Rikscha-Dolly-Fahrt in „Children’s Games, Heygate Estate“ sonst wenig benutzte Fußgängersteige ab, die über Brücken und schmale Betonhochwege ein modernistisches Wohngebiet verbinden. Durch die am Rande beiläufig inszenierten spielenden Kinder entsteht in diesem formal fast der Videospielästhetik angenäherten Kurzfilm eine Vision dessen, was die Planer solcher inzwischen nicht mehr funktionierenden Hochhausanlagen einst intendiert hatten. Die Kunst von Mark Lewis beschränkt sich nicht auf Formalismen, sie verweist gerade auch im Beiläufigen auf soziale Utopien. Doch die scheinen allesamt gescheitert, ebenso wie seine Verfilmung des „Kapitals“ von Karl Marx, die über einen großartigen Vor- und Abspann nebst einigen kurzen Szenen mit Schüssen im Hintergrund absichtlich nicht hinauskommt.

Über den Filmen und Fotos dieser Ausstellung dräut das Problem, das Leben und die Bilder in Übereinstimmung zu bringen. Dieses Gefühl wurde schon 1966 in einem ganzen Spielfilm durchgearbeitet, es ist die durchgängige Erfahrung des Londoner Fotografen Thomas in Michelangelo Antonionis Kultfilm „Blow-up“. Mark Lewis selbst behandelt in einem der Filme, die in Hamburg nicht gezeigt werden, einen weiteren Bezug zum Londoner Filmschaffen der Sechzigerjahre. Und zwar einen Zufall von einigem anekdotischem Witz: Mark Lewis heißt genauso wie der mordende Filmforscher in „Peeping Tom“, dem 1960 gedrehten Thriller von Michael Powell.

Bis 3. Juli, Katalog (Verlag Hatje Cantz) 22 €