„Ich bin nur noch Schlecker“

„Man gibt uns dauernd das Gefühl, wir sind austauschbar. Jetzt mal ehrlich: Wir sind’s“„Dass Kollegen Testkäufe machten, um mich in die Pfanne zu hauen, schockte mich am meisten“

AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB

Sie hat dunkle Haare, lebendige Augen und einen klaren Blick. Jenny Kube* ist Verkäuferin bei Schlecker. Es könnte auch Lidl oder Aldi sein. Discounter jedenfalls. Milliardenumsätze erwirtschaften die. Jene, denen die Unternehmen gehören, sind unter den Reichsten in Deutschland.

Von denen ist es ein weiter Weg runter zu Kube. Unruhig rutscht sie auf dem Stuhl in der Kantine der Berliner Ver.di-Zentrale umher. Die junge Frau möchte aus ihrem Alltag berichten. „Sagen, was Sache ist.“ Dass Schlecker die Öffnungszeiten verlängert hat und den Personalschlüssel gesenkt. In ihrer Filiale kommen auf 68 Öffnungsstunden 92 Personalstunden. Oft stehen die vier Verkäuferinnen, die sich die Zeiten teilen, deshalb allein im Geschäft und machen alles: Kunden bedienen, kassieren, putzen – die Regale, die Böden, die Toiletten, die Fenster. Gleichzeitig räumen sie Waren ein, preisen sie aus, kontrollieren Verfallsdaten. Je nach Filiale gehört auch Schneeschippen und Unkraut jäten dazu. Und „Bitte“ und „Danke“ sagen.

Ab sieben Uhr steht Kube im Laden, weil immer noch so viel zu machen ist. An Tagen, an denen Lieferungen kommen, muss sie schon um sechs da sein. Bezahlt wird ab Viertel vor acht. Abends das Gleiche. Bis 20 Uhr ist der Laden auf. Nur zehn Minuten mehr werden bezahlt. Ab 20.15 Uhr gäbe es Nachtzuschlag. Dafür ist Schlecker nicht zuständig. „Ich kann den Laden um acht zuschließen“, sagt die junge Frau, „aber die Leute, die drin sind, die werfe ich nicht raus. Das Unfreundliche bleibt immer an mir hängen.“

Das eigentlich Aufsehen Erregende an der Geschichte: Kube schafft das alles. „Wenn ich an meine Kindheit denke, man hat doch gelernt zu improvisieren. Meine Kolleginnen sind genauso. Wir können aus nichts was machen.“ Die 32-Jährige kommt aus dem Osten, vom Land. Aus einer Familie mit vielen Kindern. „Ich war die Älteste. Wenn ich groß bin, gehe ich nach Berlin, hab ich gesagt. Ich wollte was Soziales machen.“ Sozial, das heißt: für Menschen. Verkäuferin, das ist aus ihrer Sicht ein sozialer Beruf. „War es mal“, schränkt sie ein. „Jetzt bin ich nur noch Schlecker, sonst nichts. Mein Verlobter ist ganz sauer darauf.“

Kube ist „Verkaufsstellenverwalterin“. Soll heißen: Filialleiterin. Aber so nennt Schlecker die Leute nicht, die die Filialen leiten. Denn „Filialleiter“ bekommen höhere Tariflöhne. Schlecker hat deshalb eine eigene Bezeichnung erfunden, die in den Tarifvereinbarungen nicht vorkommt.

Als Verkaufsstellenverwalterin muss Kube dem Unternehmen gegenüber Rechenschaft ablegen über die Umsätze. Sie muss zusätzlich zu allen anderen Aufgaben auch die Kasse und die Dienstpläne für die vier Mitarbeiterinnen machen. Was das bei Schlecker heißt, wenn man über das Filialtelefon noch nicht einmal die Mitarbeiterinnen anrufen kann? Wenn für die vier Mitarbeiterinnen nur zwei Filialschlüssel zur Verfügung stehen? „Manchmal fahren wir nach der Arbeit noch zur Kollegin, um die Schlüssel zu übergeben.“ Ladendiebe erwischen soll Kube übrigens auch noch.

Ein anderes Problem: die Angst vor Überfällen. Weil die Frauen oft allein sind im Laden, passiere dauernd was. Auch bei Kube ist eine Frau im Team, die im Geschäft überfallen wurde. „Sie will keine Spätschicht mehr machen, weil sie Angst hat“, sagt die junge Frau. Aber für Traumatisierung ist Schlecker nicht zuständig.

Wenn sie die Letzte im Geschäft ist, lässt sie sich so oft wie möglich von ihrem Verlobten abholen. Eigentlich darf der nicht in den Laden. Auf der anderen Seite lege Schlecker es darauf an, dass die Männer schon auch mal was reparieren, wenn es nötig ist, sagt sie. „Hausmeister gibt es nicht. Schlecker stellt noch nicht mal Kugelschreiber, Lagerbesen, Arbeitskleidung.“ Kube und Co. finden private Lösungen für Probleme, die Schlecker nicht bereit ist, strukturell anzugehen. „Geiz ist das Wirtschaftsprinzip“, sagt sie, „und Druck. Man gibt uns dauernd das Gefühl, dass wir austauschbar sind. Und jetzt mal ehrlich: Wir sind’s.“ Die junge Frau würde am liebsten auswandern. Nach Griechenland. Die paar Male, die sie dort war im Urlaub, fühlte sie sich als Mensch.

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Im Hannibal, einer trendigen Kneipe in Berlin-Kreuzberg, sitzt Denis Keller. Ein schlanker Mann, 26 Jahre alt. Bevor er zu erzählen beginnt, zeigt er eine „Verpflichtungserklärung“, die er als Lidl-Mitarbeiter unterschrieben hat. Darin wird demjenigen mit Geld- und Freiheitsstrafe gedroht, der Dritten über Lidl berichtet. Ein Maulkorb ist es, der juristisch kaum Bestand hat, aber welche Verkäuferin weiß das schon. „Einschüchterung ist das Wort der Stunde“, sagt Keller.

Eineinhalb Jahre lang war der ausgebildete Einzelhandelskaufmann auf Arbeitssuche. Überall hat er angeklopft: Kaufhof, Karstadt, Kaiser’s, Reichelt, Rewe, Edeka. Vergeblich. „Der Einzelhandelsmarkt im Lebensmittelbereich ist dicht.“ Dann wurde er über eine Arbeitsagentur, die dafür 1.000 Euro Prämie kassiert, an Lidl vermittelt. „Gut, das wird kein Zuckerlecken“, so viel wusste er. Die ersten drei Wochen zahlte das Arbeitsamt den Lohn. In der Zeit habe man ihm gesagt, „das wird schon“, wenn er die vorgeschriebenen 40 Scanvorgänge pro Minute beim Kassieren nicht schaffte. „Beim ersten Artikel, den man über den Preisscanner zieht, setzt sich ein Timer, eine Art Stoppuhr, in Gang. Wenn die Summetaste gedrückt wird, hält sie an.“ Dass Keller manchmal noch sieben Stunden ohne Unterbrechung an der Kasse saß, ist eine andere Geschichte.

„Wer bei Lidl einkauft, soll keinen Spaß haben“, meint Keller. Alles muss schnell gehen. Man müsse die Kunden dazu kriegen, dass sie sofort von der Kasse verschwinden. Für ein freundliches Wort, gar Beratung, sei keine Zeit. Freundlich tun, solle man dennoch. „Ja, bitte.“ – „Selbstverständlich gerne.“ – „Sicher, Sie haben recht“. Gleichzeitig werde hinter jedem Menschen, sei es Kunde oder Verkäufer, ein Ladendieb vermutet. Durch Testeinkäufer gedrillt, müssen die Kassierer und Kassiererinnen deshalb immer aufstehen und in den Wagen gucken. „Weil ich so lange Beine habe, und es hinter der Kasse so eng ist, hab ich mir dabei ständig die Hosen aufgeschlitzt.“ Aber das sei sein Problem. „Sie werden dafür bezahlt, dass sie hier Leistung bringen. Draußen stehen fünf Millionen andere“, lautet der Tenor.

Die Liste der Schikanen, die Keller bei Lidl kennen gelernt hat, ist lang: Eine ganze Warenpalette soll in einer Viertelstunde verräumt sein. Mehr als zwei Leute dürfen nicht im Aufenthaltsraum sitzen. Der Laden muss am Abend geputzt hinterlassen werden. Schafft man es nicht während der Arbeitszeit, bleibt man unbezahlt länger. Findet der Dienststellenleiter bei der Kontrolle am nächsten Morgen, dass nicht ordentlich geputzt wurde, muss man umsonst nacharbeiten. Pausen werden beliebig beschnitten. Einblick in die Abrechnungen bezüglich Überstunden haben die Angestellten nicht. Testkäufer, die versuchen, Waren unbemerkt durch die Kasse zu bekommen, weisen den so Geprüften nach, dass sie nachlässig arbeiten. „Am meisten hat mich geschockt, dass die eigenen Kollegen Testkäufe gemacht haben, um mich in die Pfanne zu hauen.“

Keller – gebürtiger Kreuzberger, Musikfan, Motorradliebhaber – spürte schnell, dass seine Würde als Mensch bei Lidl mit Füßen getreten wird. „Die Freiheit, das zu merken, die hab ich ja noch.“ Natürlich schaffte er die Probezeit nicht. Am Ende wollte er sie nicht mehr schaffen. Kein Problem, die Arbeitsagentur schickt gerne Ersatz.

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„Bei uns arbeiten alle im Handel“, sagt Marion Königsdorf. „Mein Vater bei Metro, meine Mutti bei Norma, mein Bruder bei Karstadt.“ Und sie? „Bei Lidl.“ In verschiedenen Filialen in Halle war sie schon. „Wir gelten als Superkräfte. Wer’s bei Lidl aushält, ist zäh. Früher kamen manchmal Späher anderer Discounter und haben Kolleginnen eingekauft.“ Königsdorf blieb. „Die Stimmung war gut bei uns. Wir haben zusammengehalten.“ Fast zehn Jahre lang war sie bei Lidl. Fast. Kurz bevor die Dekade voll war, wendete sich das Blatt.

Königsdorf meint, die Stimmung kippte, als ein neuer Bezirksleiter kam. Einer, der „Treiber“ hieß. Wie Jäger. Wie Verfolger. „Außerdem bin ich denen zu teuer geworden.“ Sie hatte ja schon einen Stundenlohn über elf Euro. Mit Treiber jedenfalls fingen die Testkäufe an. Und endlich im August 2003 schnappte die Falle zu. An der Kassenwaage tippte sie für eine Schale Aprikosen den Code der Nektarinen ein. Differenz: 44 Cent. Königsdorf bekommt eine Abmahnung.

Im Eckcafé an der Leipziger Straße in Halle mit Blick auf den Leipziger Turm und das Gericht zeigt sie diese und auch die zweite Abmahnung, die sie drei Monate später bekommt. Im toten Winkel im Korb hatte sie eine Antifaltencreme für 1,99 Euro übersehen. „Nach der zweiten Abmahnung hatte ich jede Woche zwei bis drei Testkäufe.“ Und das in der Weihnachtszeit. Im Januar 2004 gelang der Coup. „Da haben sie mich rangenommen. Zwei Leute standen um den Wagen, redeten mich voll, machten mich verrückt.“ Einen Tag später bekam sie den Brief samt Kündigung. An besagtem Tag „haben wir bei Ihnen einen Testkauf durchgeführt. Dabei mussten wir feststellen, dass Sie Ihrer Sorgfaltspflicht beim Kassiervorgang erneut nicht nachgekommen sind.“ Sie hatte eine Flasche Schnaps übersehen. Die Testkäufer hatten sie in einen Karton mit 6 Flaschen Johannisbeernektar gestellt, aus der sie eine Flasche Saft raus genommen hatten. Fein säuberlich wird in den Brief erklärt, dass sie einen Saft zu viel und eine Flasche Schnaps zu wenig kassiert hatte.

Die Kündigung wurde zum Tribunal. „Das Ergebnis des Testkaufs“ am besagten Tag „zeigt an, dass Sie Ihr Verhalten nicht geändert haben.“ Sie stand am Pranger. „Bloß nicht heulen, dachte ich.“ Gesagt hat sie: „Was wollen Sie eigentlich?“ Sie wollten, dass sie die Kündigung unterschreibt. „Ich hab sie nicht unterschrieben.“ Bis heute nicht. „Als ich im Auto saß, brach Rotz und Wasser aus mir raus.“ Es kam zum Prozess. Der Richter akzeptiert die Argumentation, dass nicht sorgfältig kassiert wurde. 1.500 Euro Abfindung bekommt Königsdorf.

Ein paar Träume hatte die schlanke Frau schon. Designerin wollte sie einmal werden. Das ging nicht in der DDR. Also hat sie sich reingeschickt in was Anderes, hat ’ne Lehre als Gärtnerin gemacht. Dann: die Wende, arbeitslos, Lidl, die Ehe, das Kind, Lidl, die Scheidung, allein erziehend, Lidl. „Ganz normales Leben eben.“ Seit letztem Frühjahr ist sie arbeitslos. Findet keinen Job mehr. Jetzt hat die lebensbejahende Frau einen neuen Traum: Sie würde gern eine Ausbildung zur Tätowiererin machen. „Nur das Geld für die Kurse, das hab ich ja nicht.“

* alle Namen geändert