„Billig ohne jede Rücksicht“

Ver.di-Chef Frank Bsirske über das Geschäftsprinzip der Discounter und neue Netzwerke seiner Gewerkschaft, die Verkäuferinnen schützen sollen

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
UND GEORG LÖWISCH

taz: Herr Bsirske, Lidl, Schlecker, Aldi gebärden sich geradezu neofeudal. Führen diese Discounter in Deutschland den Feudalismus wieder ein?

Frank Bsirske: Ich würde nicht sagen neofeudal, sondern in Besorgnis erregender Weise modern. Sie nutzen die Angst ihrer Beschäftigten vor der Arbeitslosigkeit und setzen sie mit entwürdigenden Methoden unter Druck, kostenlos viele Stunden mehr zu arbeiten, als sie ihnen bezahlen. Lidl zahlt nach Tarif, aber nur einen Teil der tatsächlichen Arbeitsstunden. Die unbezahlte Arbeitszeit addiert sich bei 40.000 Beschäftigten zu riesigen Summen. Feudal sind die Verhältnisse bei vielen Discountern sicherlich darin, dass sie ihre Beschäftigten wie Untergebene behandeln.

Wie können sich die Beschäftigten wehren?

Ein Betriebsrat kann damit Schluss machen. Deshalb verhindern Lidl und andere die Bildung von Betriebsräten.

Vor einem halben Jahr hat Ihre Gewerkschaft ein Schwarzbuch zu Lidl veröffentlicht. Nichts hat sich getan, außer dass Lidl auf eine neue Image-Agentur setzt. Worauf setzen Sie nun?

Das Schwarzbuch Lidl zeigt erste Wirkung. Das Management ist etwas vorsichtiger geworden. In vielen Regionen können Filialbeschäftigte nun ihre richtigen Arbeitszeiten aufzeichnen und erhalten sie vergütet. Die meisten Frauen arbeiten in Teilzeit- und Minijobs, was die Sache nicht gerade einfacher macht. Im Kern geht es um die Würde der Frauen in ihrer Arbeit. Zurzeit initiieren wir soziale Netzwerke und Filialpatenschaften mit verschiedenen gesellschaftlichen und kirchlichen Gruppen, demnächst auch mit Prominenten. Sie sollen Beschäftigte vor Repressalien schützen, wenn sie sich zur Wehr setzen und Betriebsräte wählen wollen.

Welche Prominenten?

Das erfahren Sie demnächst.

Und was ist eine Filialpatenschaft?

In Berlin zum Beispiel gehen Schülerinnen und Schüler in die Läden, geben Informationen und versuchen, zu den Beschäftigten einen vertrauensvollen Kontakt aufzubauen. Sie empfinden den Arbeitgeber Lidl als ungerecht.

Lidl erklärt, Ihr Schwarzbuch sei reiner Gewerkschaftspopulismus.

Tausende Rückmeldungen auf unser Schwarzbuch und die Lidl-Kampagne belegen, dass das von uns beschriebene System Lidl den Arbeitsalltag der Verkäuferinnen treffend beschreibt. Das dürfte auch der Grund sein, warum Lidl bislang nicht juristisch gegen uns vorgegangen ist.

Aber viele Betriebsräte gibt es immer noch nicht, oder?

In acht von 2.600 Lidl-Filialen bundesweit gibt es bisher Betriebsräte. Vor zehn Jahren wurde beim Drogeriekönig Anton Schlecker, übrigens einer der Lidl-Finanziers, mit der Schlecker-Kampagne eine Wende erzwungen. Heute gibt es in einem Drittel der 11.000 Schlecker-Filialen Betriebsräte. Die Schlecker-Frauen, die sich durchgesetzt haben, zählen zu den aktivsten Unterstützerinnen der Kolleginnen bei Lidl. Wir kämpfen bei Lidl mit neuen Ideen, zum Beispiel mit einem Weblog im Internet, über den wir und die Öffentlichkeit viel Neues über die Zustände bei Lidl aber auch bei anderen Discountern erfahren.

Darf man noch bei Lidl einkaufen?

Boykott gehört derzeit nicht zu unserer Form der Auseinandersetzung. Ich begrüße es aber, wenn die Kunden über ihre Verantwortung und ihre Einkaufsmacht beim nächsten Einkauf nachdenken. Ich begrüße es, wenn sie es nicht tolerieren, dass die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Die Discounter drücken auch auf die Existenzbedingungen der Produzenten.

Wie?

Discounter handeln nach dem Motto: billig ohne Rücksicht auf Verluste. Sie können ihren Lieferanten Einkaufspreise aufzwingen, die die Produktionskosten kaum mehr decken. Denken Sie an die Proteste von Milchbauern. Und: Ein Arbeitsplatz bei einem Discounter vernichtet im Schnitt zwei Arbeitsplätze im traditionellen Handel. Diese Konzerne profitieren von der Armut und erzeugen sie zugleich.

Gibt es schlimme und gute Discounter?

Ver.di findet bei allen Discountern schlechte Arbeitsbedingungen vor, bei den meisten Discountern gehört das zum System. Lidl steht an der Spitze. Dieter Schwarz, der Besitzer von Lidl, Anton Schlecker und die Aldi-Brüder zählen zu den Reichsten der Welt und erwarten für ihre eigene Person, mit Respekt behandelt zu werden. Darauf haben auch ihre Beschäftigten Anspruch.