Auf beiden Augen blind

Im Zweiten Weltkrieg wollte die „New York Times“ so ausgewogen sein, dass sie ihren enormen Einfluss nicht für ein Ende des Holocaust in die Waagschale werfen wollte – wider besseres Wissen

Der „Times“-Herausgeber, selbst Jude, wollte sich nicht dem Verdacht aussetzen, Lobbyist jüdischer Interessen zu sein

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Auch wenn ihr Ruf durch die Berichterstattung vor und während des Irakkrieges beträchtlichen Schaden genommen hat – die New York Times ist nach wie vor die Tageszeitung Nummer eins in den USA. Nun hat der Journalismusprofessor Laurel Leff die Berichterstattung der Times über den Holocaust unter die Lupe genommen. Er kommt zu einem harten Urteil.

In seinem gerade erschienenen Buch „Buried by The Times“ stellt Leff klar: Die Times hatte zwar mehr als alle anderen Zeitungen über die Vernichtung der Juden berichtet, die Not der europäischen Juden aber heruntergespielt. Die Times, so Leffs, habe es versäumt, die US-Regierung zur Befreiung der Konzentrationslager zu drängen – und sich so am Tod vieler hunderttausender Juden mitschuldig gemacht.

Als Beispiel führt Leff etwa folgenden Vorfall im Jahr 1944 an: Den flehenden Hilferuf des polnischen jüdischen Nationalrates, der sich von „irgendwo in Polen“ aus an die Welt wandte („Die polnischen Juden appellieren im Angesicht ihrer Vernichtung an die Welt, uns zu helfen. Möge diese Stimme vom Rande des Abgrundes die Ohren der Welt erreichen“) wurde in der Times zwar zitiert, allerdings zwischen 13 anderen Geschichten. Leff schreibt dazu: „Niemand bei der Times stand auf und sagte: Das muss auf die erste Seite, und wir müssen jeden Tag einen Leitartikel dazu schreiben.“

Für diese Zurückhaltung macht Leff den jüdischen Herausgeber der Zeitung, Arthur Hays Sulzberger, verantwortlich. Sulzberger war ein liberaler Reformjude, dem der Zionismus und der Gedanke eines jüdischen Volkes zutiefst zuwider waren. Entsprechend war Sulzberger penibel darauf bedacht, die Times von jeglichem Verdacht freizuhalten, sich von jüdischen Interessengruppen leiten zu lassen.

Privat gab Sulzberger zehntausende von Dollars aus, um europäischen Juden die Flucht in die USA zu ermöglichen. Als jedoch die amerikanische Regierung ein Angebot der Vichy-Regierung ausschlug, Juden in die USA ausreisen zu lassen, weigerte sich Sulzberger, in seiner Zeitung dagegen Stellung zu beziehen. „Die Nachrichten waren zum Abdruck geeignet“, schreibt Seth Lipsky in seiner Rezension von Leffs Buch im Medienfachblatt Columbia Journalism Review. Und fährt in Anspielung auf das Times-Motto „All the news that’s fit to print“ fort: „Aber Sulzberger war nicht dazu geeignet, sie zu drucken. Er wehrte sich gegen eine besondere Opferrolle der Juden und wollte das Leid aller Flüchtlinge und Vertriebenen in Europa gleichermaßen behandelt sehen. Das Resultat war leider kein besonders guter Journalismus.“

Erstaunlicherweise wird Sulzberger dennoch vor den harschen Anwürfen von Leff von der Kritik in Schutz genommen. Die Washington Post, der Erzkonkurrent der Times, schreibt, Leff vernachlässige die Komplexität der damaligen Situation. Alle in Amerika seien von den Geschehnissen verwirrt gewesen, niemand habe das Ausmaß der Grausamkeiten so richtig zu fassen vermocht. Außerdem, schreibt selbst Robert Leiter, Chefredakteur des Jewish Exponent, überschätze Leff bei weitem den politischen Einfluss, den die Zeitung damals gehabt habe: „Die Times hätte nicht die Weltgeschichte ändern können.“

Am kritischsten geht noch die Times selbst mit sich um. Redakteur Daniel Okrent schreibt, „der Holocaust wurde damals gezielt heruntergespielt.“ Allerdings, räumt Okrent ein, sei man als Times-Redakteur nicht immer gegen die Vorwürfe immun, das Blatt sei zu linkslastig. Und so gibt es letztlich doch Parallelen zu den Vierzigerjahren – die Angst, einem bestimmten Lager zugerechnet zu werden, hindert die Zeitung mitunter daran, zu sagen, was gesagt werden muss.

Ausgewogener Journalismus, das zeigt die Untersuchung Leffs, ist aber nicht immer auch guter Journalismus.