Der Aufbruch muss weitergehen

Wie normal können Homosexuelle schon sein? Darf bereits das schöne Ende der Liberalisierung verkündet werden? Vorsicht ist mehr als angebracht, denn die Hölle der Homophobie wohnt nicht nur in der Nachbarschaft – auch die eigene Familie kann Horror stiften. Ein Grenzgang

von JAN FEDDERSEN und MARTIN REICHERT

Es sind ja so viele, die einmal im Jahr über die Straßen ihrer Heimatstädte paradieren, um der Mehrheit ihre sexuelle Identität auf dem Präsentierteller herzuzeigen. Heute in Bielefeld, nächstes Wochenende in Berlin, sogar in den Provinzen gibt es karnevaleske Umzüge. Super! Bürgermeister spenden Grußworte, mancherorts werden sogar Rathäuser in den Farben der Queer Nation beflaggt: All over the rainbow!

Deutschland – eine gute Heimat für die warmen Brüder und ihre Schwestern? Jedenfalls heißt CSD Christopher Street Day – und diese Erzählung handelt von aufständischen Tunten in New York, die sich vor langen Zeiten gegen Polizeirazzien zur Wehr setzten, und zwar militant, nicht mit Wattebäuschchen. Diese Erzählung muss weitergegeben werden, auch hier, erst recht hier. Deutschland einstig Naziland.

Ist das Land sechzig Jahre nach dem Untergang des NS-Staats ein Laufsteg für Homosexuelle? Auch. Nicht mehr ängstlich einander an den Händen fassend, oder gar wie in Warschau voriges Wochenende die Hände vor den Kopf hebend, um die Steine abzuwehren, die auf sie geworfen wurden, sondern frank, frei und fröhlich. In gelegentlich atemberaubend scheußlicher Kostümierung, in paillettenverstärkten Jeans und T-Shirts, auf denen „Fuck you all“ zu lesen steht. Und: Menschen wie Sie und wir, Männer mit Bier- statt Waschbrettbauch und Frauen, aus denen niemals glamouröse Julia Roberts werden.

Statt Steinen oder Feuerwerkskörpern fliegen ihnen die Küsse der am Rand der Parade stehenden Homos wie Heteros zu und die Herzen der unzähligen Zuschauer vor den Fernsehgeräten. Die Bilder des Hauptstadt-CSDs schaffen es nicht nur in den letzten Winkel, bis in die letzte katholische Region Bayerns, sondern bis in die Abendsendungen von BBC und CNN.

Derweil wiegt sich im Vor- und Nachfeld des Großereignisses der Blätterwald in schnurriger Sympathie, liebt das grelle Bilderfutter, umschmeichelt die ehemals geächteten und kriminalisierten MitbürgerInnen: Irgendwie, könnte der Eindruck entstehen, ist man sogar stolz auf die properen Schwulen und Lesben: Seht her, in welch modernen Zeiten wir leben! Wie viel Sinnenfreude, Schönheit und Buntheit möglich ist in einem Land, das vom Rest der Welt immer noch gerne als Hort sauertöpfischer Disziplin und schlechten Wetters gedacht wird! Seht her: Das sind wir! Wir und unsere schwullesbischen Freunde, die sein Eigen zu nennen in weiten Kreisen der Bevölkerung längst als Lifestyle-Gewinn gilt. Alles schön, alles gut?

Ist es nicht auch ein Gewinn, dass schwule Sexualität nicht mehr nur auf öffentlichen Toiletten oder in Grünanlagen performed wird? Es muss nicht als Verlust gelten, dass die Orte, von denen der verfemte Homosexuelle lebte, nur noch geographische Zitate sind: Wer dort hingeht, hat die neobürgerlichen Zeiten der Liberalisierung nicht hinreichend begriffen – oder übt sich in triebinspirierter Nostalgie. Es gibt mehr und mehr Schwule, die auf „Klappen“ (öffentlichen Toiletten, die Sexorte waren) sich belästigt fühlen, wenn ihnen beim Pinkeln jemand zu nah kommt. Wo man früher Subversion vermutete und in öffentlichem Sex den nötigen Tabubruch, gar Frivoles erkannte, ist eine Reinlichkeit eingezogen, die selbst von vielen Homosexuellen begrüßt wird. Alles tutti?

Medien lassen sich jedoch auch anders lesen. Da ist dann nicht vom fröhlichen Homosexuellen die Rede, wobei die Stigmatisierung als ewig Heitere ohnehin einen Beigeschmack von positiver Diskriminierung, ja von Tugendterror hat, sondern vom homosexuellen Kannibalen, vom Münchner Modemacher und seinen sexuellen Kaufgewohnheiten, von knabenschändenden Priestern und von Schwulen, die einfach so von jugendlichen Banden überfallen – und getötet werden: weil sie schwul sind und damit in den Augen der Täter kein Leben verdient haben.

Ein Blick in einschlägige Untersuchungen lehrt auch, dass Jugendliche – wie ihre Eltern – nichts so fürchten wie schwul oder lesbisch zu werden. Immer noch ist Homosexualität bei jungen Menschen der häufigste Grund für einen Suizid(-versuch). Schwul ist immer noch das schlimmste Schimpfwort, das auf Pausenhöfen wie Fußballplätzen zu hören ist. Und das Synonym für alles, was als weich, unfähig, labberig, kraftlos und weibisch gilt. Lesbisch, apropos, gilt dort als Chiffre, um eine hässliche Frau zu titulieren – unfähig, einen Mann abzubekommen.

LehrerInnen, die als homosexuell erkannt werden, können, von Ausnahmen abgesehen, im Grunde in den pädagogischen Verwaltungsdienst wechseln: Bis in die frühen achtziger Jahre waren schwule und lesbische PädagogInnen von Berufsverbot bedroht – und sind es heute in christlichen Schulen noch immer –, heute müssen sie das Mobbing durch ihre Schützlinge (und deren Eltern) fürchten. Nimmt es wunder, dass die meisten von ihnen sich ein selbstvertrautes, lebensbejahendes Outing – „I am, what I am“ – verkneifen? Und zwar allen alternativen Mühen in den vergangenen 25 Jahren zum Trotz?

Und darf man überhaupt noch erwähnen, dass offen Homosexuelles in muslimisch geprägten Vierteln wie in ostdeutschen Elendsquartieren so gebannt ist, so von Gewalt bedroht, dass sie als No-go-Areas genommen werden müssen? Besser, man fährt da nicht hin. Auf Solidarität zu hoffen ist eine unsichere Bank: Das ist die Wirklichkeit jenseits der frühsommerlichen CSD- Euphorie.

Festzuhalten bleibt auch, dass die Schränke im öffentlichen Raum weiterhin bevorzugt geschlossen bleiben: Ein „Ich bin schwul, und das ist gut so!“ ward bislang nur von einem Löwen gebrüllt, Wowereits hanseatischer Kollege Ole von Beust hingegen musste zum Outing getragen werden, per Erpressungsversuch. Er selbst schweigt, als Ikone des konservativen Homo-Role-Models, und lässt seinen Ex Roger Kusch, Justizsenator der Stadt, zu Protokoll geben, nicht jeder Schwule wolle sich inszenieren: Ein balsamischer Satz für all jene, die doch selbst mit ihrem Schicksal hadern. Doch immerhin: Erfreulich ist, dass Politiker als schwul bekannt sind – und doch nicht everybody’s Darling sind.

Wo sind aber all die schwulen und lesbischen PolitikerInnen, ManagerInnen, JournalistInnen, Militärs, Gewerkschafts- und Kirchenfunktionäre, die die Eignung und Neigung verspüren, auch öffentlich die Hürde der heterosexuellen Vorannahme zu überwinden? Ein Bekenntnis ist – klare Sache – kein Problem für jene, die keinen „seriösen“ Ruf zu verlieren haben, die in der Unterhaltungsbranche, in der Mode oder der Werbung arbeiten, in Berufen also, die mit Homosexualität seit jeher assoziiert werden: Domänen der belächelten Hofnarren und schrägen, also nicht weiter ernst zu nehmenden Bohèmiens, allesamt lächelnde Handwerker der freundlich-bettelnden Unterwerfung.

In anderen Berufsfeldern und auch im Sport wird ein Outing nach wie vor von vielen als Risiko empfunden: Man möchte nicht in eine Schublade gesteckt werden, fürchtet sich auch vor jener „gläsernen Decke“, an die homosexuelle Führungskräfte auf ihrem Weg nach oben früher oder später stoßen, weil sie in diesen Höhen als nicht mehr respektabel gelten: auch, weil sie nicht verheiratet sind, keine repräsentativen Partner vorzuweisen haben.

Und die Eingetragene Partnerschaft? Ihre linken Kritiker – meist übrigens selbst in den spießigsten „Beziehungskisten“ lebend und ängstlich auf sexuelle Treue bedacht, wie sie es selbst den echten Ehewilligen wohl neidvoll unterstellen – haben nie begreifen wollen, dass diese Noch-nicht-ganz-Ehe für das Gros der schwulen und lesbischen Paare (und Singles) als Sieg wie als Chance begriffen wurde: ein Triumph über die strikte Privilegierung der klassischen Ehe als Belohnung für den heterosexuellen Weg und als Chance – denn auf ein Recht kann nur verzichten, wer es hat. Wer ermessen will, was die Homoehe bedeutet, muss die konservative Presse und die vatikanischen wie evangelikalen Medienerzeugnisse zur Kenntnis nehmen: Deren Ressentiments sind solche ums Ganze – Homosexuelle seien nicht im bürgerlichen Sinne liebesfähig: nur als literarische Figuren, tragisch, verloren, einsam, todesahnend, vergebens, verhängnisvoll.

Der Befund mag trostlos klingen – und zugleich doch nur eine Beschreibung dessen sein, was vor Schönrederei schützt: Die völlige Gleichstellung Eingetragener Partnerschaften mit der Ehe traditioneller Art ist noch weit entfernt. Die Schweiz, die strunzbiedere Eidgenossenschaft, entschied sich übrigens vor wenigen Wochen in einem Plebiszit für die weitgehende Angleichung mit der heterosexuellen Ehe. Auch Deutschland wird diesen Weg gehen müssen – allein schon, um sich von religiös-fundamentalistischen Ländern und Gesellschaften abzugrenzen. Das könnte die Freiheit sein, auf die die Union und ihre PolitikerInnen – immer in Sachen Deutschland – so stolz sind. Angela Merkel wird die Liberalisierungen nicht revidieren, das ist inzwischen bekannt geworden: Was der Union noch fehlt, ist die Einsicht, dass vor allem sie es war, die bis Ende der Sechzigerjahre verhindert hat, die Nazifassung des Paragraphen 175 abzuschaffen: Die Opfer dieser Kriminalisierung sind bis heute nicht entschädigt – nicht einmal für eine Entschuldigung hat es gereicht.

Gleichzeitig geht auch hinter dem Wald, in den kleinen und kleinsten Städten und Dörfern die liberale Saat des „Du darfst“ auf. Regenbogenflaggenaufkleber – in Weil am Rhein wie in Meppen, Fulda, Neunkirchen oder Pirna – zieren ganz unverschämt das Heck homosexueller Automobilisten, im stolzen Wettbewerb mit den „Kenwood“- und „Böhse Onkelz“- Stickern der tiefergelegten Landbevölkerung. Kreativste Floristen treiben ihr Dekorationshandwerk in den Fußgängerzonen der Kleinstädte, gesehen in Berchtesgaden, Glücksburg oder in Salzwedel, auf einem Tischchen vor dem Schaufenster ein Stapel mit der Homo-Postille der nächstgelegenen Stadt: überall ist Queeres nicht so fern – und heißt die Chose www.allgay.de, ein Infonetz für die keineswegs unrührigen Homosexuellen im idyllischen Allgäu: inklusive spezieller Hinweise für Lesben.

Und Homos, weiblich oder männlich, die sich zwischen Marktplatz und Einkaufszentrum auf der grünen Wiese Diskriminierungen ausgesetzt fühlen, werden eben nicht mehr mit einem One-Way-Regionalexpressticket in die Metropolen ausgesetzt, sondern können auf Unterstützung engagierter Mitbürger rechnen und – gute, kämpferische Ökos – auf eine Eingabe der Grünenfraktion im Stadtrat. Übergriffe – tätlicher oder nur mündlicher Art – gibt es in Fülle: Moralisch sind sie allemal im Unrecht. Und das ist ein Fortschritt, nicht mehr, nicht weniger.

Heterosexuelle liberalen Selbstverständnisses meinen nach sieben Jahren rot-grüner Homoreformen, nun sei doch alles wunderbar geregelt. Ist es das? Können Homosexuelle so normal sein, wie sie es wünschen? Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker berichtete von einem Workshop von Eltern, deren Kinder gerade in der Pubertät stecken. Eine Mutter zog sich den Unmut aller anderen zu, weil sie ihre beiden Söhne gleich liebevoll schilderte, der eine hetero, der andere schwul. Das Unbehagen, so Dannecker, speiste sich aus dem Unwillen, Homosexuelles für ebenso liebens- wie lebenswert zu halten wie gewöhnliche Heterosexualität. Das darf als Befund für die allermeisten Familien gelten: Das Schwule, das Lesbische wird als bestenfalls zu tolerierende Ausnahme genommen. Nicht als Prägung der Persönlichkeit, unhinterfragbar und, christlich gesehen, Gottes Willen. So lange dies noch so ist, wird auch im aufgeklärten Europa Homosexuelles als prekäres Zentrum einer jeden schwulen oder lesbischen Biographie empfunden werden.

Mit anderen Worten: Die bürgerliche Selbstaufklärung ist erst am Anfang, der Aberglaube, Heterosexuelles sei die Natur und der Rest eine wenn auch tolerable, so doch pathogene Abweichung, lebt heftig. Das heißt: Der Aufbruch geht weiter.

JAN FEDDERSEN, 47, ist taz.mag-Redakteur, MARTIN REICHERT, 32, ist Autor von taz zwei und taz.mag. Beide leben in Berlin