Raus mit dem Erinnerungsgiftstoff

Vater und Tochter, Erinnerungen und Fiktionen: Gila Lustigers Familienroman „So sind wir“

VON ANNE KRAUME

Eigentlich wollte sie mit ihrem Sohn in der deutschen Buchhandlung in Paris Bilderbücher von Janosch anschauen. Doch dann stößt sie dort auf das Buch, in dem ihr Vater einem Journalisten die Geschichte erzählt, die er seinen beiden Töchtern nie erzählt hat, die aber ihr Leben mehr als jede andere geprägt hat. In der Pariser Buchhandlung, neben ihrem kleinen Sohn und seinen Janosch-Büchern, liest Gila Lustiger schließlich von den letzten Kriegstagen in Deutschland und dem Überleben ihres Vaters Arno Lustiger, der als polnischer Jude im KZ gewesen und auf einem Todesmarsch kurz vor Kriegsende entkommen war. Und während sie liest, verschwimmt draußen die Stadt im Regen.

Gila Lustiger hat einen Familienroman geschrieben, aber diese Bezeichnung führt womöglich in die Irre. Familienromane sind eine erprobte Gattung, die sich nicht zuletzt in diesem Frühjahr neuer Beliebtheit erfreut – gerade auch solche, die im Krieg und seinen Folgen ihr Gravitationszentrum haben. Gila Lustigers Roman ist einer davon, aber er funktioniert in mancherlei Hinsicht anders als etwa die Bücher von Eva Menasse oder Michael Wildenhain. Hier wird nicht ausufernd über Generationen hinweg erzählt, hier werden wenige große Linien aufgezeigt. Hier lebt die Familie zwar in einer nächsten, Janosch lesenden Generation weiter, aber von dieser familiären Gegenwart und Zukunft erfährt der Leser nur, wenn sie für die Erklärung der Vergangenheit von Bedeutung sind. Im Zentrum von Lustigers Familienromans stehen nur zwei Personen: sie und ihr Vater. Schon Mutter und Schwester spielen bloß eine Nebenrolle.

Auf der ersten, kursiv geschriebenen Seite gibt die Autorin das Erzählprogramm vor: Eines Morgens im Jardin de Luxembourg kommt sie beim Joggen auf den Gedanken, sie jogge nicht etwa der Fitness halber, sondern vor allem, um das auszuschwitzen, was sie den „Erinnerungsgiftstoff“ nennt. Wer zu „ausschwitzen“ unwillkürlich „Auschwitz“ assoziiert, liegt nicht falsch: Gila Lustiger beschreibt in ihrem Roman-Intro nämlich, wie sie zunächst vor einer familiären Vorgeschichte davonlief, von der sie glaubte, sie habe nichts mit ihr selbst zu tun. Erst jetzt, als sie in Paris beim Joggen die Vergeblichkeit dieses Versuchs erkennt, ist sie bereit, sich auf ihre Erinnerungen einzulassen.

Immer wieder sind es deshalb die kleinen, oft verwischten Spuren der Erinnerung und ihre einzelnen, an sich belanglosen Objekte –, ein Foto, ein Briefbeschwerer, eine Puppe –, die den Rhythmus des Erzählens und des Erzählten vorgeben. Immer wieder bieten sie den Anlass, sich den eigenen Erinnerungen und denen anderer zu stellen, immer wieder erlauben sie es, vor allem die Geschichte des Vaters, des Auschwitz-Überlebenden, dort einzukreisen, wo sie bisher unerzählt geblieben ist. Die Herkunft der Familie aus Polen. Der Krieg. Die Staatsgründung Israels, die die Mutter als Kind miterlebt. Das Weiterleben in Deutschland, für das sich der Vater entscheidet. Schließlich das eigene Aufwachsen zwischen Israel und Deutschland. Stück für Stück werden die Erinnerungen aneinander gereiht, und wo es sie nicht gibt oder sie so persönlich sind, dass Diskretion vorzuziehen ist, da wird auch mal etwas dazuerfunden. Gila Lustiger hat nicht etwa bloß eine Sammlung von Erinnerungen zusammengestellt, sondern einen Roman geschaffen, der sich auch auf das Spiel mit der Fiktion einlässt: „Ich kann das nicht ertragen“, schreibt sie einmal, „und deshalb erfinde ich gewissenhaft.“

„So sind wir“ heißt der Roman, der schließlich aus den Erfindungen und Erinnerungen geworden ist, und schon bei Gila Lustigers Beschreibung der ausufernden Zeitungslektüre ihres Vaters beginnt man zu ahnen, was dieses „So sind wir“ bedeutet: Der Vater liest täglich mehrere Zeitungen in verschiedenen Sprachen, reißt einzelne Artikel aus, um sie zu archivieren, verliert und verlegt dieses Material bald wieder, sammelt neues an, um auch das zu verlieren, und wird schließlich in der ausführlichen Beschreibung seiner Tochter zu einer Art beweglichem Standbild: Der raschelnde, blätternde, versinkende und versunkene Leser auf seiner gelben Couch, von dem die Tochter sagt: „Mein Vater sammelte die Meldungen aus einem Grund: Er hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, das sollte ihm nie wieder geschehen.“

Am Ende kann die Tochter zusammenfassen, wie ihre Familie ist, wie „wir“ tatsächlich sind. Denn als sie davon berichtet, wie ihr Vater auf einer Veranstaltung als „Überlebender“ begrüßt wird, wehrt sie sich gegen diese Vereinnahmung mit den Worten: So sind wir nicht! Und schreibt: „Nie ist mein Vater ein Über-Lebender gewesen, […] immer nur das: ein Lebender, einmalig, bedeutend und groß.“ Dass das so ist, das hat Gila Lustiger mit ihrem fesselnden Roman gezeigt, dessen einziges Manko es ist, dass anscheinend weder seine Autorin noch das Lektorat des Verlags wirklich mit dem Konjunktiv in der indirekten Rede umzugehen weiß.

Gila Lustiger: „So sind wir“. Berlin Verlag, Berlin 2005, 259 Seiten, 18 Euro