Blitz der Subversion

Aus dem Innern der Geschichte: Der Berliner Schriftsteller Bernd Cailloux erzählt im Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“, wie es 1968 wirklich war

VON GERRIT BARTELS

Dass dieser Roman kein wehmütig-romantischer Abgesang auf die 68er ist und auch keine wütende Abrechnung mit ihnen, zeigt allein sein nüchtern-technokratischer Titel: „Das Geschäftsjahr 1968/69“, das klingt eher nach einem Bilanzbericht und nicht nach einem Roman über 1968. Ja, das passt so gar nicht zu Politrebellion und Dialektik der Aufklärung, zu Parolen wie „Die Phantasie an die Macht“ oder „Make Love Not War“, und es wirkt auch in der Edition Suhrkamp, wo der Roman erscheint, zuerst wie ein Irrläufer.

Und doch hat der 1945 geborene Berliner Schriftsteller Bernd Cailloux einen richtigen und einen richtig guten 68er-Roman geschrieben, dessen Titel nicht von ungefähr kommt: Die entscheidende Initiation (und gleichzeitig sein 68er-Menetekel) ist für Cailloux’ namenlosen Ich-Erzähler die Gründung einer Firma, die elektronische Dauerblitzlichtgeräte herstellt. Mit anderen Worten: Stroboskope oder Discoleuchten. Das erste von ihm und seinen beiden Mitgründern Büdenhofer und Bekurz entworfene Stroboskop-Versuchsmodell erschüttert den Erzähler bis ins Mark und wirkt auf ihn „wie eine Erweckung aus zweiundzwanzigjährigem Schlaf, eine plötzlich aufleuchtende Chance auch“. Letztendlich ist es der „Blitz für den Beginn der Gegenkultur“, der Cailloux’ Roman gleichzeitig seine große, strahlende Metapher verschafft.

Nur sind sich die drei jungen Firmengründer alles andere als einig über Sinn, Zweck und Zukunft ihrer Firma: „Mit welchem Anspruch wollten wir demnächst auftreten? Als Künstlergruppe, als elektrische Derwische mit dem Blitz der Erleuchtung durch die Republik ziehen? Oder doch als Firma, als kleines, seine wahren Absichten verschleierndes Unternehmen?“ Sollen sie Underground-Klitsche bleiben oder wenigstens „Hippie-Businessmen“ werden? Oder schnöde umtriebige Geschäftsleute, die zwar die Lebensgewohnheiten der Gegenkultur beeinflussen und ausleuchten, ihr aber in null Komma nix entwachsen, da sie sich vor Aufträgen kaum retten können?

Es zeichnet sich früh ab, dass hier die Bruchlinie von Cailloux’ Roman verläuft, dass sich sein Held (und eben „68“) zwischen den Polen von knallharter kapitalistischer Ökonomie und verträumter Subkultur verirren wird – der Roman beginnt mit einer Wiederbegegnung des Erzählers mit seinem einstigen Freund und Partner Büdenhofer, und zwar 30 Jahre später. Der eine führt noch immer eine Art Hippie-Leben, der andere ist erfolgreicher Geschäftsmann, als der er sich schon damals bevorzugt sah. Seinen Kumpan vertrieb er, indem er die „Muße-Gesellschaft“ eintragen ließ, sich zum Chef machte und alle anderen als „Angestellte“ bezeichnete.

Nun versteht es wiederum Cailloux farbig und lebendig an dieser Bruchlinie entlang zu erzählen, ohne Pathos und ohne die Debatte um die Zukunft der Firma allzu penetrant zu führen. Die Firmengründung führt seinen Helden nach Provinzkindheit, Bundeswehr und spießiger Sandkastenliebe mitten rein ins Sehnsuchtsjahr, nach Düsseldorf und Hamburg, in den „Golem“ und zu Zappa, zu Hubert Fichte und Fritz Teufel. Auch mit im Spiel: ein, zwei Frauen, mit denen es weniger läuft, und viele Drogen, mit denen es super läuft, die ihm aber später eine chronische Hepatitis einhandeln.

Das Sympathische an Cailloux’ Roman ist, dass er immer schön auf dem Boden bleibt und tatsächlich nüchtern eine Zeit und ihr Lebensgefühl zu schildern versteht, die in der Regel überhöht, nostalgisch verklärt oder ausschließlich akademisch debattiert wird. Cailloux erzählt seine Geschichte selbst formvollendet als ein Dauerzucken und Dauerblitzen, in immer wieder kurzen Absätzen, die den Lesefluss aber nicht stören, und er erzählt nicht mitten aus dem Zentrum, nicht von Dutschke, Adorno oder Berlin, sondern vom Rande her, von jungen 68ern, denen klar war, dass etwa die vielen „Love-ins im Grünen“ doch eher als Gerücht durch die Welt geisterten, „als Schlagzeile und in Kommunen gestelltes Foto“. Die Anziehungskraft des 68er-Lebensstils war trotzdem groß, und in diesem Roman wird die Zeit, die für Nachgeborene nicht unbedingt zu den coolsten gehört, auch bestimmt von Pop und Coolness, von grünen oder roten Westernstiefeln über die Supremes bis zu den zahlreichen Citroën DS, die Cailloux’ Held fährt.

Dass am Ende ein Scheitern steht, gehört mit zur Logik dieses schönen Erziehungsromans – ein Scheitern aber, das von dem „proustschen Blitz der Subversion“ noch immer ganz unpeinlich und ohne Bitterness erleuchtet wird. Besser hat man lange nicht gelesen, wie sich ein Jahr wie 1968 tatsächlich angefühlt hat, wie es möglicherweise wirklich war, weit ab von der offiziellen Geschichtsschreibung.

Bernd Cailloux: „Das Geschäftsjahr 1968/ 69“. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 254 Seiten, 10 €