Krankschreiben etc.
: Doktor Döblin

Alfred Döblin ist heute vor allem als Autor von Berlin Alexanderplatz bekannt, dessen Protagonist Franz Biberkopf zurzeit durch den Palast der Republik wandert. Aber Döblin war auch mit Leidenschaft Arzt und führte in den 20er-Jahren in der Frankfurter Allee eine Kassenarztpraxis. Der im Verein Sozialistischer Ärzte engagierte Arbeiterarzt sah seinen Beruf als Möglichkeit, sozial und „auf meine Weise politisch tätig“ zu sein. Als Psychiater und Internist behandelte Döblin ein breites Spektrum an Krankheiten. So war der Bahnarbeiter Karl D. schlichtweg erkältet, während Wally D. von einer Fabriktreppe gestürzt war. Friedrich A. konnte nicht schlafen und Helene M. sprach über den Selbstmord ihres Vaters. Döblin behandelte auch Kriegsneurotiker. Und der Verleger Helmut Kindler beschreibt in seinen Memoiren, wie er Döblins Arztpraxis unter dem Vorwand eines verstauchten Beins aufsucht: „Er fragte mich verständnisvoll schmunzelnd, an wie viele schulfreie Tage ich dächte. Er habe die Schule gehaßt, fügte er hinzu, gehaßt.“

Unter Döblins Patienten waren Fabrikarbeiter und Bahnarbeiter, und viele von ihnen waren von ihrer Betriebskrankenkasse geschickt worden, um sich auf ihre Arbeitstauglichkeit hin untersuchen zu lassen. Döblin bestätigte die Arbeitsunfähigkeit seiner Patienten. Über diese Form der „Medizin der Arbeiterklasse“ schrieb er: „Ich bin genügend orientiert in kassenärztlichen Dingen und weiß, welche Loyalität im Krankschreiben, das heißt im Verordnen der Arbeitsruhe, besteht. Die Privatkranken würden mit Neid auf eine solche Einrichtung blicken!“

Doktor Döblin wusste, dass Heilung vor allem Zeit braucht, und dass die körperlichen Beschwerden oft nur die Spitze des Eisberges sind. Er konstatierte: „Organisch ist an den Leuten nichts oder fast nichts zu finden.“ In den Fragebögen der Krankenkassen, die Döblins Unterlagen vereinzelt beiliegen, wird deutlich, dass psychische Beschwerden als ein Grund für Arbeitsuntauglichkeit nicht ohne weiteres akzeptiert wurden, und dass erst einmal eher von Simulation oder Übertreibung ausgegangen wurde. „Die Misere der neurologischen Behandlung Geringbemittelter“, empörte er sich.

Döblin hielt nichts von der Praxis, sich mit Medikamenten auf die Schnelle wieder fit für den Arbeitsalltag zu machen, und empfahl „ausgedehntere psychische Kuren“. Pausen von der Arbeit waren notwendige Pausen für die Seele. Denn: „Wie denkt man Menschen zu sanieren, die ihren inneren Unrat nicht loswerden?“ Die „Gewalt des psychischen Lebens“ war für Döblin ebenso existenziell wie die Gewalt organischer Erkrankungen, was auch in seinen literarischen Werken deutlich wird. Franz Biberkopf jedenfalls hätten ein paar Urlaubstage gut getan. Aber seine Zeit im Gefängnis oder in der geschlossenen Psychiatrie könnte man ja auf dem Arbeitszeitkonto auch als Urlaub verbuchen. VERONIKA FÜCHTNER