Zur Hölle mit der Lotterie

Am westlichen Ende des Jangtse-Flusses werden Städte geflutet, weil ein Staudamm entsteht. Davon berichtet die schöne Dokumentation „Yan Mo – Before the Flood“

Der Welt größtes Staudammprojekt ist 2003 in die Bauphase getreten. Im landschaftlich spektakulären Gebiet der drei Schluchten am westlichen Ende des Jangtse-Flusses in Chinas Provinz Szechuan werden im Laufe der nächsten sechs Jahre insgesamt 1.100 Orte geflutet. Etwa ein Drittel der 1,03 Millionen Bewohner des Gebiets hat eine neue Bleibe gefunden. Auch die Menschen, die in Fengjie leben, sollen umgesiedelt werden. Hunderte von Stufen führen aus den Niederungen des Flusses hinauf zu dem 2.000 Jahre alten Tor, das den Eingang zur Stadt bildet.

Die zwei Journalisten und Fernseharbeiter Li Yifan und Yan Yu aus Chongqing betreiben zusammen das Fan-&-Yu-Dokumentarfilmstudio. Der jüngere Yan Yu ist auch der Kameramann des Films „Yan Mo – Before the Flood“ und folgt gleich zu Beginn in einem atemberaubenden Gang den Lastenträgern die steilen Stufen hoch durch die Wirren des Marktes, bis wir die besonderen Bedingungen der Stadt fast körperlich erfahren. Der mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilm beobachtet die vor zwei Jahren begonnene Versetzung der Stadt und der Siedlungen in ihrer Umgebung, vor allem aber die Reaktionen, Verweigerungen und Kämpfe der Bewohner. Finanzielle Kompensationen sind zwar geplant. Doch undurchschaubar bleibt, wer in ihren Genuss kommt und warum. Zwar wird erklärt, dass alle gleich behandelt werden, doch wer bei den Verhandlungen mit den „Neuen Chinesen“, den Technokraten, den rigiden Marktwirtschaftlern, den routinierten Abwicklern den kürzeren zieht, lässt sich leicht erraten.

Eine abenteuerliche Idee: Die Bewohner werden zu einer Lotterie in die Stadthalle gebeten, wo sie bei säuselnder Propagandamusik per Los ihre neue Behausung ziehen sollen. Die Funktionäre in den schlecht sitzenden Anzügen sind unzufrieden. Niemand kommt, nur ein paar Fotografen warten; die Stuhlreihen der Versammlungshalle bleiben leer, man schiebt es auf den Regen. Die Musik bricht ab, eine Durchsage: der Beginn der Veranstaltung werde verschoben, und den Nicht-Anwesenden wird gedroht, sie könnten nicht an der Verlosung teilnehmen. Auch könnten die, denen das gezogene Haus nicht gefiele, es gegen ein anderes tauschen. Der Genosse von der Distriktregierung drückt den Unwillen über die niedrige Beteiligung aus. Ein paar wenige greifen beklommen ihr Los. Im Saal kommt es zu Beschimpfungen. Eine Szene, die genau die Zeit braucht, die die Filmemacher ihr geben. Davor haben wir eine nächtliche Versammlung von Landbewohnern gesehen, in der die Betroffenen beraten, was sie von den Entschädigungen halten sollen. Eine Frau ruft aus: „Zur Hölle mit der Lotterie! Wenn wir unser Los gezogen haben, stehen wir alleine da.“

Erstaunlich ist, wie die beiden Filmemacher bei den kollektiven Besprechungen Wut und Verweigerung sichtbar machen. Die geduldig beobachtende Kamera interessiert sich für die informellen Siedlungen, für die ausgebeuteten Lastenträger, für die Betreiber einer ehemaligen Untergrundkirche und den Veteranen Herrn Xiang, einen eleganten älteren Herrn, der mit seiner Frau eine kleine Herberge betreibt. Er macht sich mit müden Beinen auf den Weg, eine neue Existenzgrundlage zu suchen, vorbei an Hüttenkonstruktionen aus rot-blau gestreiften Planen geht er in die neue Umsiedlungsstadt und sucht nach einem Ort, um dort einen Platz für seine Herberge zu besetzen, erfolglos. Am Ende, als alles nur noch eine einzige Abrisswüste ist, laufen die Lastenträger mit einem Riesenfass durch die Trümmerwüste und bieten Alkohol an.

MADELEINE BERNSTORFF

„Yan Mo – Before the Flood“, Regie: Li Yifan, Yan Yu. China 2004, 150 Min., läuft im Eiszeit-Kino