„Was macht ihr noch hier?“

Im Irak ist es heute gefährlicher, als es zu Saddams Zeiten war. Der Reporter Jon Lee Anderson schildert beeindruckend das gegenwärtige Chaos – und verwirrt die Leser mit zu vielen Fakten

VON RENÉE ZUCKER

In Kriegszeiten kann man gute Geschäfte machen. So auch im Irak. Verärgert notiert der Reporter des New Yorker, Jon Lee Anderson, über seinen Fahrer: „Jedes Mal, wenn ich nach Bagdad kam, wirkte Sabah ein wenig dicker, und es ging ihm augenscheinlich immer besser.“ Im Jahr 2000 hatte Anderson ihm pro Tag 50 Dollar bezahlt, 2002 waren es bereits 75 – und als der Reporter im Februar 2003 kam, weil er vermutete, dass es bald Krieg geben würde, musste er feststellen, dass Sabah den Preise auf 100 Dollar erhöht hat.

Es sollte noch teurer werden, so wie alles von Tag zu Tag teurer wurde. Am Vorabend des Krieges kostete ein Zimmer im al-Raschid 450 Dollar. Zuvor musste man jedoch den Manager schmieren, um überhaupt eins zu kriegen, und dann noch mehr Schmiergeld drauflegen, um auf der Südseite logieren zu dürfen – mit Satellitenempfang.

In Bagdad herrschte damals Chaos. Um dieses Chaos anschaulich zu beschreiben, erzählt Anderson vom anschwellenden Besucherstrom. Es sind Kriegsnomaden, Abenteurer, Geschäftemacher, Pazifisten – und Journalisten. Solche wie „der Furcht erregenden“ Peter Arnett (was an ihm so beängstigend ist, erfahren wir nicht) oder Jim Nachtwey, der „König der internationalen Kriegsfotoreporter in seinem weißen Hemd und Blue Jeans – sein Markenzeichen“, Jon Swain, der „durch den Film „Killing Fields“ berühmt gewordene Fotograf, und der „stets tadellos gekleidete Ross Benson vom britischen Daily Telegraph.

Ihr Auftreten lässt einen darauf gespannt sein, welche Rolle sie im Verlauf des Buches spielen werden. Doch: Anderson erwähnt sie nicht weiter. Er findet die menschlichen Schutzschilde noch interessanter, die mehr oder weniger freiheitsliebend, fromm oder verrückt waren und den Krieg zu verhindern suchten. Oder Miss Deutschland, den damaligen russischen Ministerpräsidenten Primakow und Dan Rather vom CBS. Alle drei treffen am gleichen Tag ein und übernachten im al-Raschid. Alle drei wollen mit Saddam Hussein über den Frieden reden – alle drei vergeblich.

Die Schönheitskönigin wurde später von Saddams psychotischem Sohn Udai zu einem Dinner eingeladen, das offenbar so entsetzlich war, dass Ihre Majestät am nächsten Tag abreiste, ohne ein weiteres Wort an die Presse zu richten. Solche Anekdoten gibt es einige in Andersons Buch. Sie sind zunächst amüsant und dann unbefriedigend, weil sie nirgendwo hinführen. Namen, die auf- und wieder wegtauchen, ob von Schönheitsköniginnen, Politikern, Imamen, Journalisten, Scheichs oder Geheimagenten – irgendwann schwirrt einem der Kopf, und man wünscht sich, der Autor würde seiner Hausaufgaben weniger ordentlich, aber dafür etwas fantasievoller erledigen.

Als ob die Lage im Irak mit den verschiedenen Volks-, Religions- und Interessengruppen nicht sowieso schon kompliziert genug wäre, vervielfacht sich das undurchschaubare Chaos mit dem Einmarsch der Amerikaner und damit auch manchmal im Text. Statt zu erklären, was denn der tatsächliche Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ist – die Nachfolgefrage von Mohammed kann es ja wohl nicht mehr sein –, erzählt Anderson von lauter Leuten und ihrem Tun, nur weil es sich eben so zugetragen hat. Er folgt in seinen Artikeln und Büchern vorwiegend strikt den Regeln der journalistischen Schule: Notier alles, was du siehst oder hörst, lass nichts aus. Schreibe alle Namen richtig, habe keine Meinung, und dann lass den Leser sich darin zurechtfinden.

Dem Leser nützt diese Art von Informationsvermittlung allerdings wenig, weil er sich irgendwann im Dschungel von Namen, Daten, Anekdoten nicht mehr zurechtfindet – er muss sich eben aus dem erschlagenden 530-Seiten-Sammelsurium die Rosinen herauspicken. Ob es die Statements von Geistlichen sind oder Kommentare von Irakern, etwa über die Fehler der amerikanischen Armee. Zunächst wurde die durchaus begrüßt, zog sich aber durch ihr Verhalten immer mehr den Hass der Einwohner zu. So postierten sich nach Einnahme von Falludscha Soldaten auf Dächern der Stadt – das war für die Bewohner inakzeptabel, denn so konnten in den Höfen die Frauen und Mädchen beobachtet werden. Aber nicht nur kulturelle Missverständnisse haben zu den Verhältnissen geführt, die heute im Irak herrschen, auch bewusste Ignoranz, wie das Wegschauen bei Plünderungen von Museen und Ministerien.

Anderson lässt keinen Zweifel daran, dass es im Irak heute gefährlicher ist, als es zu Saddams Zeiten war. Die meisten Menschen, denen er begegnet, denken: „Prima, dass ihr uns von Saddam befreit habt, aber was macht ihr jetzt noch hier?“ Zwar sei jedem klar, dass die Selbstmordattentäter aus dem Ausland kämen, aber jeder getötete Amerikaner werde mit Genugtuung registriert. Selbst die, die nie etwas gegen Amerika gehabt hätten, würden heute die Besetzer in irgendeiner Form bekämpfen. Zwar könnten nun ein paar Leute im Internet surfen, Satellitenfernsehen gucken und irgendwelche Parteien nach ihrem Geschmack wählen, aber sie müssten dafür ständig um ihr Leben fürchten. Kinder werden nicht in die Schule geschickt, Frauen gehen nicht aus dem Haus. Was nützt die Freiheit, wenn keine Sicherheit da ist, sie zu leben? „Bagdad fiel am 9. April 2003 – inzwischen sehen viele Iraker das Datum als den Tag, an dem die Befreiung des Iraks von den Amerikanern begann.“

Jon Lee Anderson: „Die verwundete Stadt. Begegnungen in Bagdad“. Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger und Norbert Juraschitz. Rogner & Bernhard bei 2001, Berlin 2005, 536 Seiten, 22,90 Euro