Ein Kranich liest selten allein

Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2005 hat mit Thomas Lang einen verdienten Sieger gefunden – und beruhigende Erkenntnisse gebracht: Die Literatur interessiert sich nicht besonders für Hartz-IV-Deutschland. Sie erzählt lieber von Menschen mit Macken aller Art

AUS KLAGENFURT GERRIT BARTELS

Es war Samstagmittag, so gegen halb zwölf, nur noch eine Lesung stand auf dem Programm, da offenbarte der diesjährige Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt noch einmal all seine Denk- und Merkwürdigkeiten. Vorgeschlagen von der Juryvorsitzenden Iris Radisch, las die Berliner Autorin Eva von Schirach einen Text über das Leben einer Soap-Figur, und zwar einen Text, der so platt fernsehkritisch war, so durchschaubar, so öde und unliterarisch und der von der Autorin so selbstdenuziatorisch albern vorgetragen wurde, dass er schon wieder eine eigene Pracht zu entwickeln begann. Man fragte sich verblüfft: Wie kam bloß dieser, von allen anderen acht Jurymitgliedern folgerichtig harsch abgelehnter Text hierher? Was verleitete Iris Radisch zu dieser Einladung? Zumal sie kurz zuvor bei einer Gesprächsrunde im live übertragenden Fernsehsender 3sat noch gesagt hatte, wie entsetzt sie gewesen sei über die vielen von ihr vorab gelesenen Klagenfurt-Bewerbungstexte.

Was das Fernsehen mit unserem Leben macht, das sei der Kern bei von Schirachs Text, argumentierte Radisch, und doch schien es mehr, als habe sie sich subtil dialektisch abgestimmt mit dem Schweizer Literaturwissenschaftler Iso Camartin, der am Mittwoch zuvor die Eröffnungsrede gehalten hatte. Denn so denkwürdig schlecht von Schirachs Text war, so merkwürdig rundete er sich mit Camartins Rede, so exemplarisch war er für deren nicht weniger merkwürdigen argumentativen Aufbau. Camartin versuchte, den guten alten Stilbegriff als Kunst- und Literaturkategorie zu neuen Ehren kommen zu lassen, der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit von Texten das Wort zu reden – wogegen nichts spricht. Doch setzte er diesen Stilbegriff ohne Not gegen den angeblich überbordenden Lifestyle von heute, o je, und verdammte dann literarisches Trendsetting und jene „trostlose Befindlichkeitsprosa (…), die Verleger und Lektoren offenbar für den authentischen Ausdruck unserer Zeit halten“.

In dieser Gegenüberstellung wirkte Camartins verbale Lanze für den literarischen Stil altbacken, weltfremd, um nicht zu sagen: reaktionär. Wer wollte bestreiten, dass Inszenierung und Trendgespür für einen Autor nicht alles sein können, dass zu außergewöhnlichen Büchern aber mehr gehört: Fleisch, Stoffe, Form, Stil? Gerade das Bachmannlesen fördert das ja immer wieder zutage. Und dass Trendsetting zwar nicht ehrenhaft ist, sich oft aber eher zufällig ergibt? Zumal die persönliche Inszenierung von Autoren mittlerweile selbstverständlich ist; selbst eine Julia Schoch oder eine Anne Weber, zwei eher zurückhaltende, aber literarisch ambitionierte (und in diesem Jahr jeweils mit dem Preis der Jury und dem 3sat-Preis geehrte) Autorinnen, können nicht so tun, als seien sie Thomas Pynchon oder Peter Handke (die sich auf ihre Art allerdings auch bestens inszenieren). Und was macht eigentlich die Popliteratur? So tot wie sie ist, so sehr eignet sie sich noch immer als Popanz.

Nimmt man die Häufigkeit, mit der die Jury auf Camartins Stilbeschwörung zurückkam, so fand die Eröffnungsrede offenbar viel Anklang, und nimmt man von Schirachs Text und Auftritt, hatte das Literaturfachpublikum gleich den lebendigen Beweis für schlimmst windigen Antiliteraturstil. Trotzdem entspann sich zwischen Camartins Rede und von Schirachs Reinfall ein abwechslungsreicher, mit Dachsen, Karpfen und Kranichen bevölkerter, seltsam indifferenter Lesewettbewerb. Dieser wies am Ende keinen echten Favoriten, bot aber jenseits von Stilbeschwörungen und Antistil ordentliche, handwerklich gut gemachte Texte, wenn auch keinen wirklich überragenden. Die Texte hatten nicht die Qualität des Vorjahrs, waren jedoch nicht so schlecht, wie sie mitunter abends im Literaturbetriebverklumpungsrestaurant Maria Loretto oder beim Schnapsprofessor wegkamen. Um so länger man diskutierte, umso mehr fanden sich welche, gegen die man nicht wirklich was einzuwenden hatte, umso mehr AutorInnen mit erkennbarem Potenzial fanden sich. Nur mit der Eindeutigkeit der Vorjahre (Tellkamp, Parei, Glaser) konnte man keinen bedenkenlos zur Nummer eins küren. Sehr ansprechend war der erste Tag, als durchwachsen bis mies erwies sich der zweite, und eine Art potenziell sicheren Preisgewinner hatte der dritte: Thomas Lang bewies mit seiner Vater-und-Sohn-verschlungen-am-Seil-Geschichte, dass man präzise und ohne doppelten Boden Spannung aufbauen kann, dass ein die Vorstellungskraft sprengendes Setting kein Hindernis für Literarizität ist und man nicht immer erklären muss, warum ein Text diese oder jene Ausgangslage hat und aus welcher Not er geschrieben wurde. Mit knapper Mehrheit von fünf zu vier setzte sich Lang dann gegen Julia Schoch durch.

Auch Nikolai Vogel hätte einen Preis verdient gehabt mit seiner fein gearbeiteten, mitunter eine Idee zu übercodierten und bedeutungsschwangeren Geschichte über einen jungen Mann, der in einer Tour überflutet wird: vom Wasser seiner Nachbarin, von Postwurfsendungen mit Duschgelpröbchen, von E-Mails, von der Unbill des Lebens. Julia Schoch überzeugte, als sie eigentümlich atmosphärisch, bildhaft, hübsch verquer und symbolisch korrekt von einer historischen Biografienschreiberin erzählte, die von der märkischen Hitze in die Schwüle des Äquators gerät, von Buckow nach Brasilien, und beides nicht auseinander halten kann; auch sie hätte Siegerin werden können, bekam aber als Trost den Preis der Jury. Natalie Balkow lieferte okaye, dichte Prosa mit ihrer Frau-trifft-Mann-Geschichte. Doch überraschte insbesondere hier das überschwänglich und fast unisono ergangene Jurylob, das sich nach vielen, vielen Nennungen bei der Entscheidung schließlich im Ernst-Willner-Preis niederschlug. Balkows Text war nicht mehr als solide. Konventionell und ohne Aufreger erzählt, hatte er auch stofflich nicht viel zu bieten.

Das Lob für Balkow stand im krassen Gegensatz zur müden Zustimmung, die Kristof Magnusson für seinen schönen, unterhaltsamen und nachhallenden Romanausschnitt bekam, der von juvenilen Pop- und Lebensdepressionen auf Island handelt: Tolle Dialoge, aber zu unterhaltsam, zu meditativ realistisch, so lautete die unentschlossene, irritierende Bewertung, die einmal mehr bewies, dass Klagenfurt eben mehr die Bühne für die Literatur der Anne Webers dieser Welt ist. Anne Webers mit dem 3sat-Preis prämierter Kunsttext aus einem Großraumbüro wurde zwar kontrovers diskutiert, von anständigem Feuilleton war gar die Rede, was Ursula März den Verdacht äußern ließ, er werde unter seinem Niveau gelobt, doch vor allem war er eine einzige kunstvolle Blendung, die graziös und geschickt vorgaukelte, sich mit den Realitäten der Arbeitswelt auseinander zu setzen und dabei immer neben der Wirklichkeit zu liegen.

Die Denkwege und Vorlieben der Jury, sie waren mitunter unergründlich, die Argumentationen wechselten, wie sie passten. Mal konnten die Erzählungen, in denen eine Band wie Belle & Sebastian vorkommt oder in denen geraucht und gefickt wird, nicht ganz schlecht sein – weshalb es die Jury großherzig vermied, die zwanzig Jahre alte Susanne Heinrich abzukanzeln. Heinrichs nett-unbedarftem Text wurden gar die Weihen einer Françoise Sagan und des Ästhetizismus verliehen, nun ja. Dann mäkelte die Jury lange an Martina Hefters schöner Wahrnehmungsprosa herum, nicht aber ohne sie in ein gewaltiges Referenzspektrum einzugliedern: Wilhelm Genazino, Peter Handke, Nouveau Roman. Und Sasa Stanisic, der aus einer Kindheitsperspektive den Krieg in Exjugoslawien bedenkenswert thematisierte, wurde beschieden, dass ihm unterwegs der Stoff verloren gehe und der Text langweile. Das Publikum sah das glücklicherweise anders, Stanisic bekam den Publikumspreis. Immerhin: Gut eingespielt war die Jury. Radisch, März und Klaus Nüchtern setzten die Highlights in den Diskussionen, was aber nur vor dem Hintergrund spröder, aber rechtschaffener Juroren wie etwa Ilma Rakusa, Daniela Strigl oder Martin Ebel ging. Man merkte der Jury bei aller Eloquenz und allem Danebenliegen an, dass ihre Sehnsucht nach einer anderen, einer aufregenderen, einer großen Literatur, nach einem richtigen Kracher, in diesem Jahr sich so gar nicht erfüllt fand.

Und so stand am Ende ein verdienter, aber unspektakulärer Sieger und einige Erkenntnisse über das Bachmannlesen 2005 hinaus: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist nicht sehr wirklichkeits- und gegenwartsversessen. Das Deutschland zwischen Pop, Arbeitswelt und Politik interessiert sie nicht besonders; das Deutschland, das vom Lifestyle genauso wie vom Unterschichtenfernsehen bestimmt wird, scheint sie nicht zu kennen; nicht das, das sich momentan zwischen Schröder und Merkel verorten muss und dabei ganz depressiv wird; und auch nicht das Deutschland, das mit Arbeitsweltveränderungen und Hartz IV zu kämpfen hat. Das kann man beklagen. Eine andere Literatur lässt sich jedoch nicht einfach so herbeizwingen, wie es etwa ein paar ewig zu kurz gekommene 78er-Literaten mit einem Manifestlein in der aktuellen Zeit versucht haben. Schön effekthascherisch schwafelten da unter anderem Thomas Hettche und Mathias Politycki von einem „relevanten Realismus“, einer „relevanten Narration“, wofür es jetzt endlich Zeit sei. Doch selbst in den Büchern eines Hettche oder Politycki muss man diese Relevanz schon mit der Lupe suchen.

So lebt die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrer eigenen Wirklichkeit, was bei den vielen nebeneinander her existierenden Wirklichkeiten in Ordnung geht, und diese Literaturwirklichkeit besteht aus Männern, die Frauen kennen lernen und umgekehrt, aus Menschen, die neben sich stehen, die essgestört, psychisch labil, gar wahnsinnig sind oder sonstige Macken haben und deren größte Sorgen fast immer familiärer Art sind. Wem das zu ernst ist, kann sich noch immer an eine andere Erkenntnis aus diesen Klagenfurter Tagen halten, gerade vor dem Hintergrund der launig vor sich hin kritisierenden Jury und gerade auch vor dem des Bühnenbilds, das sich hinter der Jury aufspannte, den vielen Mensch-ärgere-dich-nicht-Brettern: Die Literatur ist vor allem ein Spiel. Es bereitet Ärger, es ermöglicht aber unentwegt, ganz von vorne anzufangen. Und das dürfte selbst Eva von Schirach als Trost mit nach Hause genommen haben.