Die Lust am Störfall

Talkshows leben von der Hoffnung auf Skandale. Auch seriöse Sendungen. Welche Mechanismen dahinterstecken, entschlüsselt die unterhaltsame und politische Analyse „Je später der Abend“

VON BETTINA GAUS

Wer Talkshows sieht, will in den meisten Fällen vor allem eines: durchs Schlüsselloch schauen. Das gilt nicht nur für den Trash einiger Privatsender um die Mittagszeit – das gilt auch für das Publikum seriöser Gesprächsrunden. Es mag Ausnahmen geben. Vielleicht schalten einige Zuschauer tatsächlich ein, weil sie sich gründlichen Aufschluss über die Gewerbesteuer erhoffen oder ausführlich über die neue CD eines Gastes informiert werden wollen. Für die große Mehrheit gilt das nicht. Sie hoffen auf etwas anderes: auf den Skandal, auf die Enthüllung, auf die kleine, verräterische Intimität.

„Im Regelfall sind Talkshows störungsfrei und deshalb ziemlich ereignisarm“, schreibt die Medienkritikerin und ehemalige taz-Chefredakteurin Klaudia Brunst. „Wer sie trotzdem gerne sieht, wartet insgeheim darauf, dass etwas nicht gelingt. Die Talkshow ist ein Drahtseilakt. Die Möglichkeit des Scheiterns ist ihr eigentliches Unterhaltungsversprechen.“

Aber wann ist eine Talkshow tatsächlich „gescheitert“? Und wann liegt im vermeintlichen Scheitern der wahre Erfolg? Klaudia Brunst erlaubt den Lesern ihres Buches „Je später der Abend“ einen ganz besonderen Blick durchs Schlüsselloch. Sie können einen Blick in einen Raum werfen, zu dem Außenstehende normalerweise keinen Zutritt haben – und der ist interessanter als jeder Gefühlsausbruch vor laufender Kamera.

Die Autorin erinnert an Talkshows, die Fernsehgeschichte machten, und analysiert anhand dieser Beispiele präzise und unbestechlich, wie groß die Einflussmöglichkeiten der Beteiligten auf den – nur scheinbar spontanen – Gesprächsverlauf sind. Und wo dieser Einfluss endet. Die Beteiligten: Das sind keineswegs nur Moderatoren und Gäste, das ist auch die Bildregie.

Diese Analyse ist unterhaltsam, oft vergnüglich, und sie weckt Erinnerungen: ach ja, die Tränen der Verona Feldbusch! Hat sich Romy Schneider seinerzeit nun in Burkhard Driest verknallt oder nicht? Deshalb ist Bettina Böttinger so sauer auf Harald Schmidt! Wie hat Helmut Kohl das eigentlich gemacht, dass die ZDF-Journalisten Klaus Bresser und Thomas Bellut „Zaungäste ihrer eigenen Befragung“ (Brunst) blieben, als er über Parteispenden sprach?

Die ideale Lektüre vor dem Einschlafen oder für eine Eisenbahnfahrt scheint das Buch zu sein. Leicht lesbar, gut geschrieben, auf trügerische Weise harmlos wirkend. Die verstörende Erkenntnis, die sich von Kapitel zu Kapitel vertieft, kommt ganz unauffällig, fast beiläufig daher. „Im Fernsehen ist nicht wahr, was stimmt, sondern das, was stimmig aussieht“, schreibt Klaudia Brunst. Soll heißen: Inhalte sind weit weniger wichtig als die Verpackung, auch bei seriösen Sendungen. Das macht die Zuschauer anfällig für Manipulationen aller Art. Aber nicht nur sie, sondern auch die Gäste.

Zum Beispiel Kurt Raab. 1988 will der todkranke Schauspieler mit einem Auftritt in der „NDR Talk Show“ der Stigmatisierung von Aids-Kranken entgegentreten: Er versteht seinen Auftritt als „umfassende Gegendarstellung. Er will der Öffentlichkeit zeigen, dass er kein verzweifelter, vereinsamter, vergessener Aidskranker ist. Und er will dies im Fernsehen tun, weil er nur hier, in der Livesituation, die absolute Kontrolle über seine Äußerungen behält.“ Oder das zumindest glaubt.

Was Kurt Raab nicht berechnet hat: dass es nicht nur auf seine Antworten ankommt, sondern auch auf die Fragen, die ihm überhaupt gestellt werden, und auf die Haltung, mit der man ihm entgegentritt. Er kann der Opferrolle nicht entkommen. Darin spiegelt sich der Zeitgeist wider. So wie in der Tatsache, dass die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer 1975 gegen ihre Widersacherin Esther Vilar gewinnen konnte und 2001 gegen Verona Feldbusch keinen Stich sah.

Das Mosaik der Beispiele, die Klaudia Brunst wählt, ergibt so ganz plötzlich ein bedrückendes Bild. Und auf einmal stellt man fest: Dieses Buch ist nicht nur unterhaltsam, sondern eminent politisch. In der besten Tradition der Aufklärung.

Klaudia Brunst: „Je später der Abend … Über Talkshows, Stars und uns“. Herder Spektrum, Freiburg 2005, 185 Seiten, 7 €