Indiz Bettwäsche

Das Sozialamt nimmt an, dass sie einen eheähnlichen Partner hat. Deshalb kriegt sie kein Geld, kann keine Miete zahlen, flog aus der Krankenkasse

AUS MÖNCHENGLADBACH HEIKE HAARHOFF

Durchfall ist eine der besseren Kinderkrankheiten, Durchfall ist zu erkennen, auch ohne Arzt. Es gibt Medikamente. Die kann sie in der Apotheke verlangen, rezeptfrei. Sie kosten Geld, aber kein Vermögen. Es ist ihr zwar peinlich, wenn sie deswegen Freunde oder Verwandte anpumpen muss, aber sie macht es trotzdem. Durchfall, das kriegt Daniela Möller* hin.

Und wenn ihre dreijährige Tochter sich nächstes Mal nicht bloß den Magen verdirbt, sondern den Arm bricht? Wenn ihr neun Jahre alter Sohn den Nachbarn einen Ball ins Wohnzimmerfenster schießt? Wenn ihr selbst etwas zustößt? Wenn der Vermieter die Wohnung wirklich räumen lässt und das Sozialamt mit Verweis auf ihren vermeintlichen Lebensgefährten und dessen Einkommen weiterhin nicht zahlt, weder Miete noch Arztrechnungen noch Bezüge für sie und die Kinder?

Was, wenn kein Gericht ihren Hartz-IV-Bescheid korrigiert? Wenn es bei dieser Entscheidung bleibt, die mittlerweile ein halbes Jahr währt? „Dann hab ich ein Problem“, sagt Daniela Möller.

Daniela Möller, Jahrgang 1975, allein erziehende Mutter, Sozialhilfeempfängerin. So wurde sie in den Akten des Sozialamts der Stadt Mönchengladbach geführt, neun Jahre lang, seit ihrem 21. Geburtstag. Bis zu dem Tag Anfang Dezember 2004, als ein Mitarbeiter des Sozialamts mittags um halb zwölf unangemeldet an ihrer Tür klingelte und fragte, ob außer ihr und den Kindern noch ein Herr in der Wohnung lebe. „Nein“, hat sie geantwortet und sich gewundert. Daniela Möller ist nicht verheiratet, ihre Kinder sind Halbgeschwister, sie haben verschiedene Väter. Der Kontakt zum Vater des Sohns ist abgebrochen. Der Vater der Tochter kümmert sich ab und zu um sein Kind, Unterhalt zahlt er nicht, weil er selber nichts hat. Manchmal übernachtet er in der Wohnung, er hat ein paar Sachen dort. Aber dass sie ein Paar wären, eine eheähnliche Lebensgemeinschaft gar, mit gegenseitigem Füreinandereinstehen in guten und in schlechten Zeiten, mit Verantwortungsgefühl, mit Zukunftsplänen? Daniela Möller sitzt in der Kanzlei ihres Anwalts Markus Fischer in Mönchengladbach und schüttelt den Kopf. Nein, sagt sie, ihr Exfreund und sie erfüllen nicht die Kriterien, nach denen das Partnereinkommen auf staatliche Leistungen angerechnet werden darf und die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen festlegte: „Wir sind nicht zusammen, und wir leben nicht zusammen.“

So habe sie es auch dem Mann vom Sozialamt erklärt, als der bat, ihre Wohnung besichtigen zu dürfen. „Natürlich habe ich ihn hereingelassen, ich hatte doch nichts zu verbergen.“ Im Bescheid vom 13. Dezember 2004, der ihr mit der Post zugeschickt wurde, konnte sie nichts Verwerfliches entdecken. Darin stand, dass in ihrem Schlafzimmer ein Doppelbett stehe, mit zwei Kissen und zwei Decken drauf, und zwar „bezogen“. Für das Sozialamt aber war das Indiz eindeutig: Es müsse davon ausgegangen werden, hieß es weiter, dass Daniela Möller mit dem Vater ihrer Tochter in einer „Bedarfsgemeinschaft“ lebe, dass jener Vater den Unterhalt der Gemeinschaft sicherstellen könne und „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch“, besser bekannt als Hartz IV, folglich „nicht gewährt“ werden könnten. Nicht gewährt. Es bedeutet: kein Geld auf ihrem Konto. Rausschmiss aus der Krankenkasse. Mietschulden, Wohnungskündigung. Nur das Kindergeld, das wurde ihr gelassen.

Daniela Möller will kein Mitleid, sondern Recht bekommen. Wenn nötig, will sie bis vors Bundessozialgericht gehen, vielleicht bis vors Bundesverfassungsgericht. Ihre Klage wird bundesweit eine der ersten sein, die ab Herbst in einem Hauptsacheverfahren vor dem Düsseldorfer Sozialgericht verhandelt wird. Bislang gibt es in dem Streit über Hartz-IV-Bescheide und der Frage, was eine eheähnliche Gemeinschaft ist, nur zahlreiche einander widersprechende Eilentscheidungen diverser Sozial- und Landessozialgerichte. Weil es schnell gehen muss – schließlich geht es um die materielle Existenz von Menschen –, werden die meisten allein anhand der Aktenlage entschieden, mit unterschiedlichem Ergebnis: Das zuständige Düsseldorfer Sozialgericht gab Daniela Möller im Februar Recht, das Landessozialgericht in Essen jedoch hob den Beschluss im April wieder auf, und wenn die Bundesregierung morgen ihre Zwischenbilanz der Arbeitsmarktreform Hartz IV zieht, dann wird Daniela Möller immer noch nicht wissen, ob sie jemals wieder staatlichen Lebensunterhalt bekommen wird.

Sie weiß nur: Sie ist kein Einzelfall. Der Versuch, staatliche Leistungen auf Privatleute abzuwälzen, ist seit der Einführung von Hartz IV vielerorts spürbar. Der Topf staatlicher Gelder, über deren Vergabe die Kommunen und die neu gegründeten Arbeitsgemeinschaften verfügen, ist seit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe größer geworden, das Einsparpotenzial im Fall von Leistungsverweigerung auch. Entsprechend scharf sind die Kontrollen und die Methoden, um vermeintlichen Sozialbetrug aufzudecken. Vor einem Jahr noch hieß es in einer Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit, die damals allein zuständig war für die Vergabe von Arbeitslosenhilfe: „Von der Beauftragung des Außendienstes ist regelmäßig abzusehen.“

Heute werden Denunziationen durch Nachbarn oder Verwandte begrüßt, manche Kommunen senden Verwaltungsmitarbeiter aus, in Schlaf- und Badezimmern nach Spuren etwaiger Lebenspartner zu suchen. Aber auch zufällig angetroffene Gäste werden zunehmend schlicht aufgrund des äußerlichen Eindrucks als unterhaltspflichtige Partner eingestuft – das jedenfalls ist der Eindruck von Anwälten und Beratern in Selbsthilfeeinrichtungen für Hartz-IV-Geschädigte.

Die Städte und Gemeinden verwahren sich gegen solche Annahmen. Die Pressestelle der Stadt Mönchengladbach schreibt in einer E-Mail an die taz: „Für unangekündigte Besuche benötigen wir keine speziellen Rechtsgrundlagen. Wir sehen es als unsere Pflicht an, Hinweisen auf den möglichen Missbrauch von Leistungen nachzugehen. Der unangekündigte Hausbesuch ist hierzu ein geeignetes Mittel.“ Und: „Es gibt bei derartigen Hausbesuchen keinen abzuarbeitenden Kriterienkatalog: Der Außendienst macht lediglich im Einzelfall objektive Feststellungen, die dann vom Sachbearbeiter im Innendienst nach geltendem Recht bewertet und beurteilt werden.“

Die Protokolle dieser objektiven Feststellungen füllen Festplatten, Akten und Schreibtische. Sie bestimmen den Arbeitsalltag von Martin Schillings fünf Tage die Woche. Schillings ist 47 Jahre alt und seit 1990 Richter am Düsseldorfer Sozialgericht, er hat über Klagen von Schwerbehinderten entschieden und über Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Ärzten und Kassen geurteilt, seit Januar aber verhandeln der Richter und zwei weitere Kollegen nichts anderes als Widersprüche gegen Hartz-IV-Bescheide: Drei Kammern sind am Düsseldorfer Sozialgericht ausschließlich mit Hartz-IV-Fällen betraut. Ab Juli werden es fünf sein. „Wir bekommen dreimal so viele Verfahren, wie wir dachten“, sagt Schillings. Der Sozialgerichtsbezirk Düsseldorf ist einer der einwohnerstärksten Deutschlands. Knapp neun Millionen Menschen leben hier. Allein Schillings’ Kammer erreichten im Juni bisher 80 neue Fälle, fast alles Eilanträge, denen das Hauptsacheverfahren ab Herbst erst noch folgen wird. Wenn man dem Richter zuhört, dann entsteht der Eindruck, dass diese Klagen die deutschen Sozialgerichte ganz schön schnell ganz schön lahm legen könnten.

Mal geht es um die Wohnungsgröße, mal um Leistungen für Stiefkinder oder die Anrechnung der Eigenheimzulage, meistens aber um die Frage, ob tatsächlich eine eheähnliche Gemeinschaft besteht und die Höhe der staatlichen Transferzahlung insofern vom Einkommen des vermeintlichen Lebenspartners abhängen darf. Mal reichte den Kontrolleuren der Anblick eines fremden Mannes in Unterhosen als Nachweis, mal verwirrte sie die Anzahl der Zahnbürsten eines Singlehaushalts, mal umzingelten sie die Badezimmertür, bis der angebliche Sozialbetrüger nach einer halben Stunde aufgab und seine Identität als Freund der Familie preisgab. Daniela Möller wurde das Doppelbett zum Verhängnis.

Martin Schillings seufzt nicht, er regt sich nicht auf. Er sitzt in Polohemd und Jeans vor seinem Computer und referiert sachlich die Grotesken bereits entschiedener Fälle, so als handele es sich um Einsprüche gegen Falschparken. Er weiß um die politische Brisanz jeder Aussage. Er sagt: „Ein neues Gesetz muss ausgelegt werden, da ist es normal, dass es Unklarheiten und unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt.“

Schillings und seine Düsseldorfer Kollegen haben häufig zugunsten der Betroffenen entschieden – es sei juristisch nicht haltbar, argumentierten sie, allein anhand des äußeren Anscheins die Art der Beziehung zwischen Menschen feststellen zu wollen. Das Landessozialgericht in Essen hat diese Beschlüsse bislang ganz oder teilweise wieder aufgehoben – weil der äußere Anschein sehr wohl relevant sei. Weitere Instanzen existieren in Eilverfahren nicht. Eine grundsätzliche Klärung wird frühestens mit Beginn der Hauptverhandlungen möglich sein.

Das Problem, sagt Schillings, gehe aber tiefer. Auch im Fall von Daniela Möller. Denn selbst wenn sie zurzeit des Kontrollbesuchs in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt haben sollte: Einklagbar wären die Ansprüche gegen ihren Ex nicht. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt keine Unterhaltspflicht zwischen eheähnlichen Partnern. Geld, über das sie verfügen könnte, hätte sie also noch lange nicht.

Daniela Möller versucht nicht mehr, die Logik hinter solchen Regelungen zu ergründen. Sie hat etwas anderes gelernt über Staat und Justiz. Sie sagt: „Im Endeffekt ist man der Dumme.“

*Name geändert