Rätselraten um Brüsseler Geld

Berlin muss sich ab 2007 auf deutlich weniger Fördermittel von der EU einstellen. Weil der Finanzgipfel gescheitert ist, droht zudem eine Zeitverzögerung für EU-geförderte Programme

VON RICHARD ROTHER

Berlin residiert in einem unscheinbaren, aber schicken Häuschen in der Avenue Michel-Ange 71, einer typischen Nebenstraße im Brüsseler EU-Viertel: Manch Souterrainwohnung ist zu vermieten, hier und da laden hübsche Straßencafés zum Einkehren ein. Passende Orte für das, was die Szenerie des Stadtteils ausmacht: Lobbying. Rund 15.000 Lobbyisten aus Wirtschaft, Verbänden und Verwaltungen soll es in Brüssel geben. Sie bearbeiten die rund 27.000 Menschen, die für den EU-Apparat in der belgischen Hauptstadt tätig sind.

Das lohnt sich: Schließlich geht es nicht nur darum, in welche Branchen und Projekte die mehr als 100 Milliarden Euro fließen, die der EU-Haushalt jährlich ausmacht; es werden auch immer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen. Da scheint es sinnvoll zu sein, das Ohr direkt an der Quelle zu haben – um vor schwerwiegenden Beschlüssen Einfluss zu nehmen.

In der Avenue Michel-Ange kümmert sich eine Hand voll Mitarbeiter um die Berliner Interessen. „Wenigstens kennt in Brüssel jeder Berlin“, sagt Nicola Schmeling vom Berliner Büro. Ansonsten ist das kleine Berliner Büro nur eines von vielen im großen Brüssel, rund 260 Regionalbüros gibt es hier. Regionalvertretungen, die für die Berliner sowohl Partner als auch Konkurrenten sind: Einerseits haben alle ein Interesse, dass die Regionen kräftig gefördert werden; andererseits kämpft jede um die eigenen Mittel. Schließlich gingen bislang rund 30 Prozent des EU-Haushalts in die Struktur- und Kohäsionsfonds. Zwischen 2000 und 2006 bekam allein Berlin rund 1,3 Milliarden Euro aus den Strukturfonds.

Wie viel Geld es in der nächsten Förderperiode 2007 bis 2013 gibt, steht allerdings noch völlig in den Brüsseler Sternen. Für EU-geförderte Projekte könnte das enorme Schwierigkeiten bedeuten. Schließlich braucht man ein bis eineinhalb Jahre, um die Förderprogramme zu konkretisieren. Ein pünktlicher Start am 1. Januar 2007 ist seit dem gescheiterten Gipfel unwahrscheinlicher geworden. Aber, so die Stimmung in Brüssel: Nichts Genaues weiß man nicht.

Mehrere Entscheidungen müssen getroffen werden, bevor Berliner Projekte und Unternehmen weiter von Brüsseler Geldern profitieren können: Wie viel Geld gibt es insgesamt, und in welchen Regionen soll es wofür ausgegeben werden? Zunächst muss geklärt werden, wie viel Geld überhaupt in den nächsten Jahren für die Regionalförderung ausgegeben wird. Dass es unter britischer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr dieses Jahres zu einer Einigung kommt, halten Brüsseler Beamte für eher unwahrscheinlich – auch wenn die EU-Kommission einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten könnte. Käme es zu Beginn der österreichischen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2006 zu einer Einigung, wäre der Zeitverlust nicht allzu groß. Vermutlich wird die aktuelle Finanzkrise, die von der Verfassungskrise der Europäischen Union überlagert wird, erst in einem Jahr gelöst – wenn überhaupt.

Unklar ist auch noch, welche Art von Regionen künftig wie gefördert wird. Fest steht aber schon, dass der Schwerpunkt der Förderung auf den bedürftigsten Regionen in Europa liegen wird, den so genannten Ziel-1-Gebieten. Diese liegen überwiegend in den neuen EU-Ländern im Osten, in der vergangenen Förderperiode gehörten Ostdeutschland und Ostberlin dazu.

Künftig wird ganz Berlin ein so genanntes Ziel-2-Gebiet und entsprechend weniger Geld erhalten; das Geld könnte sich bis auf die Hälfte bisheriger Förderung reduzieren, befürchten Experten. Berlin fordert deshalb nun, in den Ziel-2-Gebieten die Mittel auf Regionen zu verteilen, die nach „sozioökonomischen Kriterien“ bedürftig sind. Hier wäre Berlin zweifelsohne dabei. Die wirtschaftliche Situation Berlins sei aufgrund der langjährigen Teilung der Stadt eine besondere, erkennt auch Marc-Eric Dufeil an, der in der EU-Generaldirektion für die deutsche Regionalpolitik zuständig ist. „Berlin ist eine künstliche Stadt.“

Dufeil rät vor allem den Ostdeutschen, die Kooperation mit Polen zu suchen. Schließlich werde Polen mittelfristig sehr viel Geld von der EU erhalten. In Berlin lobte Dufeil vor allem den Wissenschaftsstandort Adlershof, den er kürzlich besucht hatte. „Eine tolle Geschichte“, so Dufeil.

Auch Klaus Müller, bei der EU für den Europäischen Sozialfonds (ESF) in Deutschland, Österreich und Slowenien verantwortlich, lobt die Hauptstadt. „Mit der Umsetzung der Projekte in Berlin sind wir sehr zufrieden.“ Dass Mittel verfallen, drohe in Berlin nicht. Schwierigkeiten gebe es lediglich in Sachsen. Bereits jetzt seien in Berlin 90 Prozent der Mittel bis 2008 gebunden.

Immerhin wird damit gesichert, dass es in Berlin auch EU-geförderte Projekte gibt, wenn es am 1. Januar 2007 noch keine klaren Regelungen geben sollte. Ein Teil des Geldes aus der laufenden Förderperiode (2000 bis 2006) kann bis 2008 ausgegeben werden.

Aktuell finanziert der ESF zum Beispiel Weiterbildungsmaßnahmen für 1-Euro-Jobber. Rund 3.500 Plätze stellt der rot-rote Senat in diesem Jahr zur Verfügung. Junge Arbeitslosengeld-II-Empfänger sollen so parallel zum 1-Euro-Job etwa einen Hauptschulabschluss nachholen können. Zurzeit fließt in Berlin die Hälfte der ESF-Mittel in die berufliche Erstausbildung von Jugendlichen. Anders gesagt: Ohne Brüssel sähe der Berliner Lehrstellenmarkt noch düsterer aus.

In der Avenue Michel-Ange in Brüssel ist man sich dieser Situation durchaus bewusst. „Berlin braucht auch künftig eine substanzielle Förderung“, heißt es in einer Stellungnahme des Berliner Brüssel-Büros. Damit müsse nicht nur die sozioökonomische Situation der Stadt verbessert werden. Berlin müsse auch Wachstumsmotor für das Umland werden, wie dies üblicherweise bei Metropolenräumen der Fall sei.