Blick nach vorn im Zorn

Die Reformer im Iran haben versäumt, die sozialen Probleme anzugehen. Ihre Kompromisse mit den Konservativen haben zur Wahl eines radikalen Islamisten geführt

Die Reformer haben es versäumt, die Zivilgesellschaft zu fördern und ihre Wähler zu mobilisieren

Die Wahl Ahmedinedschads zum Staatspräsidenten wirkte wie ein Schock. Niemand hatte mit einem Sieg des ultrarechten Flügels der Konservativen gerechnet, erst recht nicht damit, dass sein Konkurrent, Haschemi Rafsandschani, der dem moderaten Flügel der Konservativen angehört, solch eine dramatische Niederlage erleidet.

Bei den Wahlen der letzten Jahre verfügten die Konservativen immer über fünf bis acht Millionen Stimmen. Nun hat Ahmedinedschad bei der Stichwahl mehr als siebzehn Millionen Stimmen bekommen. Ein Wunder, das nicht allein mit dem Verweis auf Wahlmanipulationen zu erklären ist. Die Gründe liegen in der sechsundzwanzigjährigen Geschichte der Islamischen Republik.

Bevor die Revolution im Februar 1979 ausbrach, verkündete Ajatollah Chomeini in seinem Pariser Exil den Aufbruch zu einer neuen Epoche – einer Epoche, in der es nicht nur politische Freiheit, sondern auch eine soziale Umwälzung geben werde. Jene, die durch Raub zum Reichtum gelangt seien, würden für ihre Sünden büßen, und jene, die immer unten waren, würden endlich oben sein.

Die Massen im Iran vernahmen die Botschaft. In ihren Augen war der Ajatollah der Gesandte Gottes, der verborgene Imam, der als Nachfolger Mohammeds wieder erschienen war, um auf Erden Gerechtigkeit walten zu lassen. All die Barfüßigen und Habenichtse, die Unterdrückten und Erniedrigten, sahen in ihm den einzigen Retter aus ihrem Elend. Bewaffnet mit der islamistischen Ideologie und der schiitischen Bereitschaft zum Märtyrertod, folgten sie dem Ruf des geistlichen Oberhaupts zum Widerstand. Gegen diese Kraft war die Armee des Schahs machtlos, sie zerfiel innerhalb weniger Monate.

Auch nach der Revolution bildete diese Kraft die eigentliche Basis des neu gegründeten Gottesstaates. Es waren zum großen Teil Landflüchtige, die infolge der Bodenreform des Schahs oder im Zuge der Revolution in die Städte gezogen waren, dort keine Arbeit gefunden hatten und ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristeten. Entwurzelt, weder dem Land noch der Stadt zugehörig, unwissend und ungebildet, die Bäuche mit nichts anderem gefüllt als mit Wut. Diese Menschen waren verführbar von Charismatikern, Autoritäten, Demagogen, ja, sie waren zu jedem Opfer bereit.

In den ersten Monaten nach der Revolution setzte das Regime sie gegen die politischen Widersacher ein. Wo immer sich ein Widerstand gegen die neue Macht bemerkbar machte, bedurfte es nur eines Winks des Revolutionsführers, um hunderttausende mit erhobenen Fäusten auf die Straßen zu bringen. Das konnte eine Zeit lang gut gehen, auf dieser Basis ließ sich jedoch kein Staat etablieren. Die Menschen brauchten Arbeit.

Da kam das Schicksal dem Gottgesandten zu Hilfe. Ein Angriff des Nachbarstaats Irak im Jahr 1980, dem ein achtjähriger Krieg folgte, löste vorerst das Problem. Millionen zogen an die Front. Mehr als eine halbe Million starben. Nach dem Krieg standen die Rückkehrer, auch die Hinterbliebenen, mit leeren Händen da. Krieg, Korruption und Misswirtschaft, der Mangel an Planung und die Isolierung des Landes von der internationalen Staatengemeinschaft hatten das Land ruiniert. Ein Teil der Habenichtse wurde in militärische oder paramilitärische Organisationen oder Geheimdienste aufgenommen. Das Los der anderen war weiterhin die Armut.

Spätestens nach Chomeinis Tod, wenige Monate nach Kriegsende, entpuppten sich die Bekundungen zur Parteinahme für die Entrechteten und Beleidigten als pure Demagogie. Statt dem Volk zu dienen und die Lebensverhältnisse der Mittellosen zu bessern, haben die Mullahs in die eigene Tasche gewirtschaftet. Im Vergleich zu diesen Banditen sahen der Schah und seine Funktionäre wie kleine Taschendiebe aus. Aus den einst mittellosen Stadt- und Dorfpredigern, die für ein Handgeld den Gläubigen himmlische Botschaften verkündeten, sind inzwischen Multimillionäre mit vollen Bankkonten im Ausland geworden.

Die Barfüßigen erfahren diesen Raub des Volksvermögens tagtäglich am eigenen Leib. Heute leben über 50 Prozent der iranischen Familien am Rande des Existenzminimums oder darunter. Nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosigkeit bei 15 Prozent. Das ist unglaublich angesichts der Tatsache, dass Iran potenziell zu den reichsten Ländern der Erde gehört.

Die soziale Misere hat Ahmedinedschad aufgegriffen. Er schlüpfte in die Rolle eines Bettlerkönigs. Mit einer radikalen Kampfansage an die korrupte Obrigkeit, an jene, die sich auf Kosten der Volksmassen bereichert haben, schürte er Hass- und Rachegefühle. Warum, fragte er, sollen jene, die die Revolution gemacht, im Krieg ihr Leben riskiert und die Folgen getragen haben, am Hungertuch nagen, während andere in Reichtum schwelgen. Er konnte von Glück sagen, dass sein Rivale Rafsandschani hieß, einer der grauen Eminenzen, der inzwischen zu den reichsten und korruptesten Lenkern des Gottesstaates gehört.

Statt dem Volk zu dienen, haben die Mullahs in die eigene Tasche gewirtschaftet

Die ungeheure Kampagne der Radikalislamisten richtete sich weit mehr gegen Rafsandschani, als dass sie für Ahmedinedschad warb. Mit dem populistischen Ruf nach Gerechtigkeit gelang aber den Radikalen ein zweiter, nicht minder wichtiger Streich, ein Ablenkungsmanöver von politischen Fragen. Während in den vergangenen acht Jahren seit der Wahl Chatamis Fragen über Demokratie, Menschenrechte und zivile Gesellschaft die Hauptstreitpunkte zwischen den Konservativen und Reformern bildeten, schafften es die Rechten, diese politischen Themen in den Schatten der sozialen Fragen zu stellen.

Die These der Reformer, ohne Demokratisierung, ohne einen Rechtsstaat ließen sich ökonomische Probleme nicht lösen, wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Verdutzt mussten sie feststellen, dass für die Scharen der Arbeitslosen, der Habenichtse und Benachteiligten die Sicherung der materiellen Existenz näher liegt als die Sicherung ihrer Bürgerrechte. Ihr unverzeihlicher Fehler bestand aber nicht nur darin, dass sie sich zu wenig um soziale Fragen gekümmert haben. Sie haben es auch versäumt, ihre Wähler – immerhin hatten 23 Millionen einst für Chatami gestimmt – zu mobilisieren, die Zivilgesellschaft zu fördern und die Bürgerrechte gegen Übergriffe von rechts zu verteidigen. Stattdessen waren sie vergeblich bemüht, die Rechte zu Kompromissen zu bewegen. Für die große Enttäuschung über diese Politik haben die Reformer jetzt die Zeche zahlen müssen.

Ahmedinedschad ist ein Populist, ein Demagoge. Seine Wähler werden bald merken, dass sich weder die sozialen noch die ökonomischen und politischen Fragen mit einfachen Parolen und hohlen Versprechen lösen lassen. Sie, die für soziale Gerechtigkeit gestimmt haben, werden enttäuscht feststellen, dass sie einen radikalen Islamisten gewählt haben, dessen Auffassungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einer längst vergangenen Zeit angehören. BAHMAN NIRUMAND