„Schröder hat kein taugliches Instrument“

Wenn sich der Bundeskanzler aus dem Amt tricksen muss, ist das keine Charakterfrage, meint der Innsbrucker Politikwissenschaftler Anton Pelinka. Es liegt an einem Strukturfehler des deutschen parlamentarischen Systems

taz: Herr Pelinka, die Bundesregierung überlegt sich gerade allerlei Tricks, um zu Neuwahlen zu kommen. Ist das eigentlich ein Höhepunkt oder ein Tiefpunkt der politischen Kultur dieses Landes?

Anton Pelinka: Nein, bitte, so dramatisch muss man das nicht nehmen. Von Tiefpunkt sehe ich gar nichts. Es gibt in Deutschland in so einem Fall nun mal einen Zwang zur Notlüge.

Wer zwingt da wen?

Das Grundgesetz zwingt zu unschönen Umwegen. Das war bei Willy Brandt und bei Helmut Kohl auch nicht anders. Es ist aus der Sicht eines Regierungschefs in einer parlamentarischen Demokratie sinnvoll, über Neuwahlen ein klares Mandat zu suchen. Oder eben eine Niederlage für seine Politik einzustecken. Das ist überhaupt nichts Ungewöhnliches.

In anderen Demokratien geht das.

Selbstverständlich. Schauen Sie ins Mutterland der Demokratie. Ein britischer Premier hat es leicht. Er bittet die Königin, das Parlament aufzulösen. Sechs Wochen später finden Neuwahlen statt. Nur in Deutschland fehlt dem armen Gerhard Schröder das taugliche Instrument. Deswegen muss er nun tricksen. Das ist keine Charakterfrage – es liegt schlicht an der Verfassung, die ihm gar keine andere Wahl lässt.

Man kann dem Kanzleramt, wenn man erst mal drin ist, nicht so leicht entkommen?

Ja, ziemlich schwierig. Brandt und Kohl waren in einer ähnlich vertrackten Situation. Auch sie mussten nach Vorwänden suchen, um vorgezogene Bundestagswahlen zu erzwingen. Ich sehe das als ein Problem der parlamentarischen Demokratie Marke Bundesrepublik. Die VerfassungsautorInnen haben das Grundgesetz unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik so ausgelegt, dass der Kanzler gestärkt wurde. Schnelle Kanzlerwechsel wie in Weimar sollten nicht mehr möglich sein. Also erfand man das konstruktive Misstrauensvotum.

War das so unsinnig?

Es hat der Stabilisierung der deutschen Demokratie nach 1945 eindeutig geholfen. Das war einerseits konsistent und klug. Andererseits wurde dadurch die Möglichkeit zur Selbstauflösung des Bundestages erschwert. Es ist praktisch unmöglich, zu vorzeitigen Neuwahlen zu kommen – obwohl das aus politischen Gründen durchaus wünschenswert ist manchmal. Denn es liegt in der Logik parlamentarischer Systeme, unter bestimmten Umständen den Wahltermin vorzuverlegen. Da sind sich doch, bei aller Aufgeregtheit, in Deutschland alle einig. Die deutsche Verfassung hat einen Strukturfehler.

Es wäre aber nicht sehr schön, sich die Verfassung zurechtzubiegen. Dann lieber ein fingiertes Misstrauensvotum.

Die Verfassung zu ändern, weil man dafür einen aktuellen Anlass hat, kann ich nicht empfehlen. Das hat einen Beigeschmack. Ich rate, es einem deutschen Bundeskanzler zum letzten Mal zu erlauben, sich aus dem Amt zu tricksen. Ich hoffe, der Bundespräsident drückt ein Auge zu. Danach beschließen die Parteien einstimmig, das Grundgesetz so zu sanieren, dass das nicht noch einmal nötig wird.

War es denn richtig von Schröder, den Souverän um ein Votum zu bitten, also Neuwahlen zu suchen?

Ich würde sagen, es war sehr verständlich. Das Problem nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen war, dass Schröder praktisch handlungsunfähig gewesen wäre – und damit das Land. Die Union hätte ihn über den Bundesrat vor sich hergetrieben. Gerhard Schröder hat einen Ausbruchsversuch aus dieser Situation versucht, der hoch riskant ist und aller Voraussicht nach schief gehen wird. Das ist aber vollkommen legitim.

In Österreich gibt es die Möglichkeit der Auflösung …

… natürlich.

Wie groß ist die Mehrheit bei Selbstauflösung?

Einfach.

Warum hat Ihr Land so viel klügere Lehren gezogen als Deutschland?

In Österreich hatte niemand Anlass, die Verfassung der ersten Republik von 1920 für den Aufstieg des Nationalsozialismus verantwortlich zu machen. Also ist das Land nach 1945 wieder zum demokratischen Grundmuster zurückgekehrt. Danach kann die parlamentarische Mehrheit die Regierung stürzen. Und die Regierung ihrerseits über die Mehrheit das Parlament auflösen. Das ist Normalität.

Gibt es noch einen deutschen Fall im Weltvergleich der Demokratien?

Nein. Das deutsche Wahlsystem wird gerne abgekupfert. Aber die Unmöglichkeit, den Bundestag aufzulösen, will sicher niemand haben. Das ist kein Vorbild.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER