Sommersprossen

Ein weißes Pferd in postindustrieller Landschaft: Den Wundern des Erwachsenwerdens gilt „My Summer of Love“ von Pawel Pawlowski

„My Summer of Love“ ist ein Film über die Liebe. Die Liebe eines Sommers, na klar, steht ja schon im Titel. Aber die Übereinstimmung von Form und Inhalt geht in diesem Fall viel weiter. Was in diesem Film passiert, hat keine große Bedeutung, außer für seine Beteiligten; er verlässt sich auf Stimmungen und will sich zwischen Realitätssinn und Wunschbildern nie richtig entscheiden; in seinen schlechten Momenten erscheint alles wie aus zweiter Hand, schon hundertmal gesehen und bloß imitiert; in den guten erlebt man etwas aufregend Neues, vielleicht sogar Provozierendes. Dass auf den Sommer der Herbst folgt, hat man am Ende wie immer schon vorher gewusst.

Zeigt doch bereits die erste Einstellung, dass bei der Sache mit Mona (Natalie Press) und Tamsin (Emily Blunt) etwas nicht stimmt. Mona, das rothaarige Provinzmädchen mit den ausgeleierten Klamotten, liegt im Gras und blinzelt in die Sonne. Neben sich ihr Gefährt, ein altes Schrottplatzmoped ohne Motor. Als Tamsin hier erstmals erscheint, thront sie, sozusagen hoch zu Ross, auf einem Schimmel. Man kann es mit den Symbolen auch übertreiben, aber diese hier stimmen. Tamsin, das Mädchen mit dem viel aufregenderen Namen, kommt aus einer anderen Welt, aus einer – wir sind in England – anderen Klasse. Aus dem Internat wurde sie geschmissen, weil sie ein „schlechter Einfluss“ war. Der Unterschied ist riesig und die Hierarchie offensichtlich. Mona wurde gerade von ihrem erwachsenen Freund aufs Schmählichste verlassen.

Doch Eindeutigkeiten sind eindeutig nicht Sache des anglo-polnischen Regisseurs Pawel Pawlowski, dessen hoch gelobte Migrantengeschichte „Last Resort“ hierzulande leider nicht zu sehen war. Was etwa hat es mit Monas Bruder Phil (Paddy Constantine) auf sich? Der Ex-Kriminelle schließt sich den „Wiedergeborenen Christen“ an und krönt dieses Engagement mit einem vier Meter hohen Kreuz, das er mit seiner kleinen Gemeinde auf einem der die Stadt umgebenden Hügel errichtet. Mona lässt sich jedenfalls lieber von Tamsin bekehren. Nach einer Unmenge Rotwein, Zigaretten und unkeuschen Blicken kommt es zu Freundschaft, Intimität und schließlich zu … ja was eigentlich? Einer lesbischen Liebe? Einer Entladung hormonellen Überdrucks zweier Teenager?

Man wird in Pawlowskis Bildern keine Antworten finden, schon weil sie aus einer Zeit stammen, in der man mit sexuellen Zuschreibungen anders umging. Da ist noch die vage Ahnung der Vorlage, eines Romans von Helen Cross um die Auswirkungen des Bergarbeiterstreiks von 1984 in Yorkshire. In der Schilderung postindustrieller Tristesse ist Pawlowski von Ken Loach und dem Free Cinema nicht weit entfernt. Aber wenn Mädchen auf Schimmeln dahergeritten kommen, als wären sie auf dem Weg nach Camelot; wenn sie Cello spielen auf überwucherten Tennisplätzen und dazu den sterbenden Schwan interpretieren; wenn diese Mädchen Rotwein trinken und dabei über Nietzsche philosophieren oder über Frankreich, wo Verbrechen aus Leidenschaft keine Strafe nach sich ziehen – dann assoziiert man urplötzlich versunkene Filmidyllen der Siebzigerjahre, und schon ist die Stimmung eine ganz andere.

Im Ganzen wirken die Ausflüge ins Retroflair immer wieder als Flucht vor dem spröden Realismus der übrigen Szenen und umgekehrt. Vor allem die anarchischen Streiche, die Mona und Tamsin ihrer Umwelt spielen, schlagen Haken der Widerborstigkeit in das gefällige Arrangement. Wäre doch gelacht, wenn sich so ein wiedergeborener Fanatiker nicht mit ein bisschen Nietzsche („Gott ist tot!“) aus der Fassung bringen ließe. Die Frau des Exfreundes erhält unangenehmen Besuch. Dann wird der im Grunde höchst labile Phil auch noch Opfer einer geradezu satanischen Verführung. Den Höhepunkt bildet jedoch jene verstörend-komische Performance, in der Mona ihrer neuen Freundin einen männlichen Orgasmus vorspielt.

Am Ende stellt sich noch viel mehr als vorgetäuscht heraus. Manche Zeichen hat man übersehen und vielleicht nicht genügend auf die Gesichter der beiden hervorragenden Darstellerinnen geachtet, von denen die eine, Natalie Press, bereits zur neuen Tilda Swinton erklärt wurde. „My Summer of Love“ ist ein Film über die Liebe und ihre Tücken. Aber auch darüber, wie uns die schrecklichsten Dinge stärker machen können. Frei nach Nietzsche. Es ist ein Film wie das Gesicht von Natalie Press, von englischer, aber sicher nicht vornehmer Blässe. Mit vielen Sommersprossen als Farbtupfern. Aber auch ein Film wie die von Alison Goldfrapp („Utopia“) eingespielte Musik: ein kontrolliertes, sich der Filmgeschichte ein wenig zu bewusstes Schwärmen. Für ein Verbrechen aus Leidenschaft kennt Pawel Pawlowski die Gesetze zu gut. PHILIPP BÜHLER

„My Summer of Love“, Regie: Pawel Pawlikowski. Mit Natalie Press, Emily Blunt u. a. Großbritannien 2004, 86 Min.