Verwildertes Labyrinth

Von allem zu viel: Männer am Instrument, Frauen im Bett, Katzen, Fremde und Zeichen. Enervierend pompös verrätselt ist Adolf Muschgs neuer Roman „Eikan, du bist spät“

Adolf Muschgs neuer Roman „Eikan, du bist spät“ ist ein volles, ein übervolles Buch – und ein kapital rätselhaftes. Andreas Leuchter, 42, Cellist, befindet sich in seiner wichtigsten Affäre mit der Japanerin Sumi – seine Ehe ist zerrüttet. Er bekommt eine Partitur zugeschickt, die er spielen soll, komponiert von seinem Jugendfreundfeind Roman Enders, der an Aids sterben wird.

Das Stück scheint unspielbar: Nur der erste Satz ist in Notenschrift notiert, „danach verwilderte die Partitur zu einem Zeichenlabyrinth“. Ein „Grenzfall neuer Cellomusik“, eine schwere Herausforderung für Leuchter, möglicherweise von Enders geschaffen, um ihm ein letztes Mal seine Grenzen aufzuzeigen. Leuchter besteht die Probe nicht, das Konzert gerät zum Desaster und in der Folge auch Leuchters Leben. Sumi verlässt ihn, die Ehefrau stirbt. Leuchter gibt das Cello auf und kommt sich schlimm abhanden.

Große, schwere Themen hängt Muschg an diesem Haupthandlungsfaden auf – es sind Muschg-typische Themen: Japan und das Nichtverstehen; Kunst; Krise; Lust und Buße; Liebe und Verpassen; Schuld und Versäumnis. Diese Häufung verhindert allerdings, dass eines dieser Themen wirklich durchgeführt wird. Vieles, was Stoff für einen ganzen Roman abgegeben hätte, wird nur angerissen und dadurch verschenkt. Hinzu kommen zu viele Nebenepisoden, zu viele Figuren – namentlich marginale Bettgenossinnen Leuchters. Auch wessen Katze nun gehütet werden muss und wie das eine Reiseroute verändert, ist von geringem Interesse, aber hohem Konfusionspotenzial. Andererseits: zu viele Dramen von hochfahrender Theatralik, ebenfalls auf Nebenschauplätzen, zu viele krasse, undurchschaubare Umschwünge, die aber flüchtig abgehandelt werden und zum Teil lose Enden produzieren: abstruse Verschwörungstheorien um Sumi; Briefe, in denen um Unterredungen auf Leben und Tod gebeten wird, womit es dann aber nichts weiter auf sich hat; die Ehefrau, die urplötzlich stirbt, und der Ehemann, dem man ihren Tod nicht mitteilt, und einiges mehr.

Auch überpointierte Dialoge und Kommentare erzeugen den Eindruck eines Zuviels: „Todesangst hast du nicht, sie hat dich.“ – „Enders war tot, seine Kunst lebte, und es tat nichts, wenn es sich bei Leuchter umgekehrt verhielt.“ Solche gedrechselten Sophismen sind auf die Dauer ermüdend. Alles ist mit mindestens einer weiteren Bedeutung befrachtet. Die zu entziffernde Partitur enthält an entscheidender Stelle den Vornamen des Protagonisten, Andreas, oder auch den Nachnamen des Komponisten, Enders. Sumi, ebenfalls Cellistin, findet das beim Sex heraus, die Tonfolge entspricht den Buchstaben. Beide Namen bedeuten im Grunde „anders“ – darauf ist wiederum nur durch eine Abweichung von der Partitur zu kommen. Anders – Abweichung.

Bei so viel Symbolik kann es kein Zufall sein, dass der Vorname des Komponisten, Roman, der Name der Textgattung ist, in der er in Erscheinung tritt, und für Leuchter muss es im Grunde eine Erleuchtung geben. Davon ist er allerdings die meiste Zeit weit entfernt. Der schwächliche Held versteht nichts von seinem Unglück, aber permanent scheint er schuldig zu werden – für seine Mitmenschen ist das ganz klar. Die Anklagen lauten auf „Seelenmord, aus Leichtsinn oder Unverstand“, und dass er noch nie geliebt habe.

Dabei geht er Sumi doch in Japan suchen, seine große Liebe, Jahre nachdem sie ihn verlassen hat. Hier wird es dann vollends enigmatisch. Sieht er Sumi oder sieht er sie nicht, schickt sie Stellvertreterinnen oder verkleidet sie sich, um ihn zu sehen und ihm doch nicht zu begegnen, und welche Funktion haben all die anderen Männer um sie herum – man erfährt es einfach nicht. Vielleicht soll der Roman hier, gleich der Partitur, zu einem Zeichenlabyrinth verwildern.

Was sich indes vermittelt, ist eine enervierend pompöse Verrätselung ohne erkennbaren Zweck, und was bleibt, sind einzelne perfekte Szenen vom Atem kürzerer Erzählungen. Insgesamt aber macht der Roman einen überanstrengten und zugleich unkonzentrierten Eindruck – ein in seiner Fülle nicht strotzendes, sondern blasser werdendes Buch, ständig auf höhere Zeichenhaftigkeiten aus und doch ausfransend in unnötigen Verwirrungen. MAJA RETTIG

Adolf Muschg: „Eikan, du bist spät“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 150 Seiten, 17,90 €