„Eine Stinkwut hatten die Leute auf mich“

Hagen Koch hat die Mauer durch Berlin am 15. August 1961, zwei Tage nach Beginn des Baus, für die Stasi kartografiert – und verhinderte 29 Jahre später im Auftrag der frei gewählten DDR-Regierung den Abriss der letzten Mauerstücke. Heute vor 15 Jahren war der erste Tag ohne DDR-Grenzregime

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Herr Koch, heute vor 15 Jahren konnte man erstmals die Grenze zwischen Ost- und Westberlin ohne Grenzkontrolle überschreiten. Erinnern Sie sich noch an diesen Tag?

Hagen Koch: Auf Weisung der beiden Regierungen, also der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, wurde am 30. Juni um 24 Uhr das Grenzsystem durch Deutschland beendet, weil am 1. Juli um 0.00 Uhr die D-Mark in der DDR ein gültiges Zahlungsmittel wurde.

Also hat das mit der Währung zu tun?

Ja. Beide Regierungen waren der festen Überzeugung: Solange noch unterschiedliches Geld existent ist, müssen Zoll- und Passkontrollen, Waren- und Personenkontrollen durchgeführt werden.

Und Sie waren in dieser Nacht an der Grenze?

Ich war ja Sonderbeauftragter der Regierung de Maizière, zuständig für die Begleitung des Abrisses der Mauer. Ich habe die letzten Reste der Mauer unter Denkmalschutz gestellt und war am 23. Juni 1990 in Monte Carlo gewesen, als bei einer großen Auktion 81 Mauerelemente für die betuchtesten Menschen der Welt versteigert wurden – im Durchschnitt kostete ein Stück 20.000 bis 30.000 D-Mark. Der Erlös sollte dem Denkmalschutz und dem Gesundheitswesen der DDR zugute kommen. Am 30. Juni 1990 bekam ich dann den Auftrag, dieses Grenzregime zusammen mit anderen offiziell zu beenden.

Wie haben Sie das gemacht?

Ich war beim Chef der DDR-Grenztruppen. Er hat angeordnet, dass in den letzten zwei Stunden vor 24 Uhr noch einmal der gesamte Aufzug der Passkontrolleure am Checkpoint Charlie ist. Um 24 Uhr nahmen die letzten beiden Grenzer die letzten beiden Stempel. Mein Personalausweis bekam den letzten Stempel. Dann nahm ich beiden den Stempel ab – einen davon habe ich noch. Den anderen bekam der Gründer des Mauermuseums Haus am Checkpoint Charlie, Rainer Hildebrandt.

Als Beauftragter der frei gewählten DDR-Regierung de Maizière für den Mauerabriss: Was haben Sie da den ganzen Tag gemacht?

Ich war Beauftragter für den Schutz von Kulturgut, verantwortlich für historische Bauwerke im Institut für Denkmalpflege der DDR seit dem 2. November 1989. Mir war klar, die Mauer war ein welthistorisches Bauwerk. Ich mahnte: Wir müssen die Geschichte der Mauer für die Nachwelt erhalten. Ich bekam dann sogar ein Disziplinarverfahren, weil meine Oberen meinten, alles müsse weg. Das wollten die Täter. Die Opfer wollten auch alles weghaben, um nicht an das Leid erinnert zu werden. Die letzten Reste der Mauer – an der Bernauer Straße, Invalidenfriedhof, Niederkirchner Straße, Schlagbäume am Checkpoint Charlie, Eastside-Gallery und den Turm in Treptow – habe ich täglich gesichert, oft im Streit mit den Grenztruppen. Es war ein riesengroßes Hickhack. Außerdem sicherte ich Dokumente, Fotos, Karten und so weiter. Das ist heute mein Archiv. Eine Stinkwut hatten die Leute auf mich, weil ich die Vernichtung der Spuren der Mauer nicht duldete.

Warum hat die DDR überhaupt nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 das Grenzregime aufrechterhalten – es war doch schon sinnlos, oder?

Die Durchschnittsbevölkerung hat sich dadurch schon noch etwas zurückgehalten: Naja, wenn nun doch eine Stichprobe ist und ich Westgeld in der Tasche habe, befürchteten sie. Damals sind ja Milliardenbeträge über die innerdeutsche Grenze hin und her geflossen. Heute bedauert man, dass damals nicht genauer kontrolliert wurde.

Aber man brauchte weiter einen Pass bis zum 1. Juli 1990 für den Grenzübertritt?

Ja, man brauchte einen Personalausweis. Und es gab den Zoll auf beiden Seiten. Die haben ganz fiese Kontrollen gemacht. Die sowjetischen Soldaten etwa durften auch nicht nach Westberlin.

Wer illegal rüberging, konnte noch bestraft werden?

Natürlich. Es galten ja noch Gesetze auf beiden Seiten. Ich wurde noch am 10. November 1989, einen Tag nach dem Mauerfall, kurzzeitig festgenommen wegen des dringenden Verdachts einer Flucht in den Westen. Viele glaubten ja, morgen ist die Grenze wieder zu. Und ich als ehemaliger Offizier hatte eine lebenslängliche Sperre, in den Westen zu reisen. Damals sprach noch niemand von der Vereinigung Deutschlands.

Die Motivation der DDR-Grenzer war nach dem Mauerfall doch bestimmt auf dem Nullpunkt, oder?

Die war im Eimer. Wenn ich mit einem Grenzoffizier an einem Tag noch gesprochen habe, war der schon am nächsten Tag weg. Die Massen sind auseinander gelaufen. Einige aber haben versucht, dieses Rad der Geschichte anzuhalten. Noch 14 Tage vor der deutschen Einheit wurde für die Grenztruppen der DDR für den Fall, dass die Einheit nicht kommt, ein Posterkalender für das Jahr 1991 in einer Auflage von 50.000 Exemplaren gedruckt. Ich habe derweil versucht, die Reste der Mauer zu erhalten.

Hätte man nicht viel mehr von ihr erhalten müssen?

Es geht nicht um Quantität. In der Bernauer Straße etwa erhielten wir sie, um an das zu erinnern, was dort geschah, also die Bilder, die um die Welt gingen: Die Leute, die aus den Fenstern sprangen, Konrad Schumann, der über den Stacheldraht sprang, die Tunnelbauten. Auf dem Invalidenfriedhof sollte gezeigt werden, mit welchem Frevel Friedhöfe platt gemacht wurden, um ein freies Schussfeld für Beobachter zu schaffen.

Am 15. August 1961, zwei Tage nach dem Mauerbau, hatten Sie die Mauer für die Stasi kartografiert. Heute gelten Sie mit Ihrem privaten Mauermuseum als „Mauerexperte“ – hätten Sie je gedacht, dass die Mauer Ihr Lebensthema werden könnte?

Nein, auch 1990 noch nicht. Zunächst wollte ich nichts mehr damit zu tun haben, nachdem ich zuerst meinen Job beim Denkmalschutz verlor, dann einen in Baden-Württemberg als Kunsttransporteur. Erst 1994 habe ich das Archiv gegründet.

Was halten Sie von den Mauerkreuzen Alexandra Hildebrandts? Sollten sie abgerissen werden, wie es für kommende Woche geplant ist?

Ja, weil diese Installation ihren Zweck erfüllt hat. Ich fand es zunächst ganz toll, dass da etwas passiert. Die Mauerkreuze haben aufgerüttelt. Jetzt sollte man zur Realität zurückkehren: Man sollte an das erinnern, was am Checkpoint Charlie stattgefunden hat, die Panzerkonfrontation und viele Fluchtereignisse, den Tod von Peter Fechter nicht weit davon – und an das freudige Ende, die Entfernung der Schlagbäume. Die Kreuze sind bloß eine Erscheinung, aber sie sagen nichts über die Ursachen. Jede Fluchtgeschichte ist eine andere Geschichte. Dazu brauchen wir einen Informations- und Dokumentationsbereich. In Berlin gab es ungefähr 250 Mauertote.

Die Erinnerung an die Mauer und ihre Schrecken scheinen zu schwinden. Wird die Mauer bald ganz aus der Erinnerung verschwunden sein?

Nein, weil die Welt danach fragt. Ich habe insgesamt 46 Filme gemacht, mit Fernsehstationen aus der ganzen Welt. Unser Dilemma, warum wir nicht ranwollen an dieses Thema, ist: Es leben noch alle Beteiligten des Kalten Krieges, die den jeweils anderen Teil Deutschlands, also entweder die Kapitalisten oder die Kommunisten, aktiv bekämpft haben – und das will keiner zugeben.