„Wir leben im Nebel“

In Teherans tausenden Taxis finden Außen- und Innenwelt, Öffentlichkeit und Intimität zu einer Einheit, die es in der Realität der Islamischen Republik Iran sonst nicht gibt. Momentaufnahmen eines zerrissenen Landes

VON SUSANNE FISCHER

Im Schritttempo kommen wir unter die Augen des Herrn. Von einem haushohen Wandgemälde schaut Chomeini auf Reklametafeln für Dell Computer und Tiefkühlpizza, als die Frau auf dem Beifahrersitz unseres Taxis gerade in einer Mischung aus Kummer und Amüsement der Frau hinter ihr eine SMS zeigt. Ihr Sohn, dem sie gelegentlich ihr Handy borgt, hat sie von einer Freundin bekommen. „Kill ya, kill ya, kill ya, whatcha gonna say is you don’t wanna play, what you want, what you need don’t mean FUCK to me.“ Ob sie sich Sorgen machen müsse? Kürzlich habe sie ihn gefragt, woran er glaube. „An nichts, Mama. An nichts und an die Reinkarnation.“ Die beiden Frauen reden, als seien sie unter sich, über Privates wie über Politik, was im Iran wie siamesische Zwillinge unfreiwillig untrennbar verbunden ist. An der Schule habe ihr Sohn eine Verwarnung bekommen, weil er eine Stripteaseshow mimte – natürlich ohne ein einziges Kleidungsstück abzulegen. Die jüngere Tochter hingegen sei offenbar in Che Guevara verliebt. Sein Poster hänge überm Bett und sie wolle alles über ihn wissen: wer er war, wofür er gekämpft hat, warum er getötet wurde und von wem. Und immer häufiger würden beide sie fragen, wo sie im Revolutionsjahr 1979 war. „Hast du mitgemacht, Mama? Warum? Hast du wirklich daran geglaubt? Und wir sitzen jetzt mit den Mullahs da!“

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Die Zeit verrinnt. Vor der Kreuzung, auf der Autobahn, auf der Vali-ye-asr, der großen Nord-Süd-Achse Teherans. Und das, wo die jungen Iraner ohnehin das Gefühl haben, ihnen laufe die Zeit davon, weil sie sich immer nur ein paar Stunden wahres Leben im falschen erschleichen, erlügen, ertricksen können. „Dualität ist unser Lebensstil. Wir haben alle zwei Identitäten: eine für die Außen- und eine für die private Innenwelt“, erzählen Studenten, Mütter, Journalisten, Unternehmer, Künstler, Sekretärinnen, Verkäufer. „Alle wissen es, alle durchschauen es. Wir wahren den Schein, mehr nicht.“ Iraner sind Meister im Wandern zwischen den Welten, gleiten scheinbar mühelos zwischen biruni und andaruni, zwischen außen und innen, hin und her. Andaruni war von alters her jener innere Teil eines islamischen Hauses, der den Frauen vorbehalten ist. Heute verbirgt sich dort die Welt der Partys, der offenen Worte, der Träume von einem anderen Iran.

Der Ort, an dem sich beide Welten begegnen, auf engstem Raum, ist das Taxi. Für die Dauer der Fahrt teilen Fremde, die sich nie zuvor gesehen haben und vermutlich nie wieder sehen werden, ein Stück Innenwelt. Taxi fahren in Teheran bringt nicht nur Fahrer und Gast zusammen, sondern ganze Grüppchen, Männer und Frauen, die in Bussen getrennt, aber im Taxi auf engstem Raum zusammensitzen. Ein Sieg des Pragmatismus über die Moral. Schon so steht Teheran mehrmals täglich vor dem Infarkt. Für zwölf Millionen Menschen gibt es 5.356 Busse, drei U-Bahn-Linien – und zehntausende Taxis. Deren Benutzung folgt in Teheran Regeln, die auf Ortsfremde wie ein bizarres Kollektivgebaren verwirrter Großstädter wirken, in Wahrheit aber ein ausgefeiltes System des Personentransports sind: „Vanak? Vanak?“ – mit leicht gebeugtem Kopf schleudern Menschen am Straßenrand jedem Auto Namen entgegen, die klingen wie ein geheimer Code: Vanak, Enqelab, Vali-ye-asr. Gelegentlich scheint das Codewort zu passen, dann hält ein Auto, und ein oder mehrere Passanten steigen zu.

Nachmittags um vier. Auf der Vali-ye-asr steht alles still. Zwei junge Männer zwängen sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer flucht auf einen Polizisten, wie sie überall in Teheran am Straßenrand stehen und Delikte der Vorüberfahrenden notieren. Die aber erfahren nur davon, wenn sie zur Verkehrsbehörde gehen und fragen – etwa weil sie das Auto verkaufen wollen. Dann bekommen sie das Register der letzten Jahre vorgelegt – ohne Möglichkeit, zu überprüfen, ob sie an jenem Sonntag vor drei Jahren tatsächlich ohne Gurt gefahren sind. „Reg dich nicht auf“, sagt einer der Jungen, „das ist nur ein armer Beamter, der wenig verdient.“

Fahrgastwechsel. Zwei Studenten steigen ein, unterhalten sich übers Internet. „Schon gehört? Es gibt jetzt auch DSL-Verbindungen, die sind tausendmal schneller als das Einwählen übers Telefon. Pars online bietet das neuerdings an.“ – „Aber die wollen wir doch boykottieren, weil sie so viele Seiten filtern.“ – „Alle filtern, du Idiot.“

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Am Steuer sitzt ein junger Mann, Mitte 20, Brille, und bietet darbast an, Taxi privat: ohne Umwege, ohne weitere Passagieraufnahme zum Ziel gegen einen entsprechend höheren Preis. Eigentlich habe er eine Shrimpsfarm im Süden gehabt, erzählt er unterwegs, sei aber Bankrott gegangen und müsse deshalb Taxi fahren. „Iraner essen nicht gern Shrimps. Zu teuer, und außerdem wissen sie nie genau, ob Shrimps nicht doch haram, verboten, sind, Muslime dürfen ja nur Fische essen, die Schuppen haben. Haben Shrimps Schuppen?“ Mehr noch aber quält ihn, dass er wegen der Abneigung seines Volks gegen Shrimps seine Liebste nicht heiraten kann: kein Geld für die Hochzeit, für eine Wohnung, für das Brautgeld.

Jeder fünfte Iraner leide an Depressionen, meint die Psychologin Negar Eskandarfar: „Weil wir ständig mit Widersprüchen leben, hat die Jugend keine klaren Werte, keine Ziele, keine Hoffnung. Nichts ist klar, wir leben im Nebel.“ Zum Psychologen gehe dennoch kaum jemand. „Unsere Psychologen sind die Taxifahrer. Sie reden mit allen, analysieren das Leben und die Politik, kennen uns wie kaum ein anderer. Und wir sind ein Volk, das redet. Wir steigen ein, schimpfen, laden unseren Frust ab und steigen mit einem Gefühl der Erleichterung wieder aus.“

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In halben Autolängen geht es voran, irgendwann an der ehemaligen US-Botschaft vorbei. Schauplatz jener Niederlage, die die USA im Verhältnis zum Iran auch heute, 25 Jahre danach, nicht überwunden hat. Noch immer verherrlichen Wandgemälde in Teheran die Geiselnahme von 66 Amerikanern, die bis zur Freilassung der letzten Gefangenen 444 Tage dauerte. Doch die Oberfläche verführt zur Täuschung. Wie die Luftspiegelungen glutheißer Sommer das Auge in die Irre führen, so verwirrt dieses Land. Weil es selten so ist, wie es scheint. Weil es mehr gibt als den regierungsamtlichen Iran, den George W. Bush auf der „Achse des Bösen“ platziert hat. Weil die vielen Wandmalereien „Nieder mit Amerika“, der harsche Ton der Führung nur wenig darüber verraten, was die Bevölkerung denkt, hofft, fürchtet. So jemanden wie Mehdi dürfte es sonst gar nicht geben. „Sag den Amerikanern, wir würden sie mit Blumen begrüßen“, hatte er mir vor ein paar Tagen im Schutz des verwinkelten Teheraner Basars aufgetragen. Der 26-Jährige hat Ökonomie studiert, fand aber keinen Job und stieg ins Teppichgeschäft seines Vaters ein. Ein schwieriges Geschäft. „Im Iran kann man keine Kreditkarten benutzen, aber welcher Tourist hat schon genug Bargeld für einen Teppich dabei? Es kommen ohnehin zu wenige Leute, wir sind ein geschlossenes Land, wir verpassen unser Leben!“ Hat er keine Angst vor den Amerikanern? „Ich habe mehr Angst vor meiner Mutter.“ Und die Gewalt im Irak? „Nach jedem Krieg ist die Lage zunächst schlecht. Aber die Iraker haben jetzt Freiheit, die sie vorher nicht hatten. Ich wäre bereit, das Risiko eines Kriegs für die Hoffnung auf einen Wechsel in Kauf zu nehmen.“

Wer die passenden Leute kennt, kann in Teheran fast alles bestellen und nach Hause liefern lassen, von Pizza bis zu Raubkopien der neuesten Kinohits, von Heroin bis zu Alkohol. „Möchtest du deinen Wodka mit Vanille- oder mit Orangengeschmack?“, werde ich gefragt, kaum hat mich das Taxi vor einem vornehmen Haus im Norden Teherans abgesetzt. „Komm zum Abendessen vorbei“, hatte es geheißen, nichts Ungewöhnliches in diesem gastfreundlichen Land, wo Freunde ständig Freunde zu Freunden von Freunden mitbringen. Um die Macht über die Innenwelt nicht ganz zu verlieren, lassen die Repräsentanten der Außenwelt immer wieder ihre Muskeln spielen. Niemand weiß, wann. Dann verhaften sie ein paar Journalisten und Weblogger. Oder sprengen, wie kürzlich im Haus einer Bekannten, eine Party. Festnahmen, Alkoholtests, im Gefängnis auf einen Termin beim Richter warten. Wer Glück hat, bekommt eine Geldstrafe, aber auch Stockhiebe sind üblich.

„Beim nächsten Mal sind wir dann vorsichtiger. Aber sie können uns nicht aufhalten“, sagt die Freundin, die sich, nach zwei Tagen Haft kaum heimgekehrt, erst mal eine Bloody Mary mixte. „Warum auch nicht? Jede Prostituierte wurde besser behandelt als wir, die nur mit Freunden, alle verheiratet, ein bisschen gefeiert hatten. Da war diese Frau auf der Wache, offenbar vom Straßenstrich eingesammelt. Sie zog in aller Ruhe die Lippen nach. ‚Was tust du?‘, fragte ich. ‚Hast du keine Angst?‘ Sie schaute mich fast mitleidig an. ‚Angst? Wieso? Ich gehe gleich da rein, habe eine Runde Sex mit dem Richter, und danach gehe ich nach Hause.‘ “

Auf dem Rücksitz hält ein junges Paar überhaupt nicht verstohlen Händchen. „Da vorne wollen wir raus“, sagt der Junge dem Fahrer. Sie springen auf die Straße und verschwinden in den Tiefen eines Einkaufszentrums. Im ersten Stock liegt das Jam-e-Jam, der Treffpunkt der Jeunesse dorée von Teheran. Ein Schnellrestaurant reiht sich ans nächste, es gibt Misosuppe und Pizza, Sachertorte und brasilianischen Kaffee, aber nicht wegen des Essens kommt die Jugend her, sondern um zu sehen und gesehen zu werden. Eine Frau um die 20 lässt ihr herabgerutschtes Kopftuch auf den Schultern ruhen, zieht es erst nach endlos scheinenden Minuten wieder hoch.

Gerade im Verhüllen liegt für Shadi Parand ein besonderer Reiz. Die Modedesignerin liebt den Tschador – nicht den schwarzen, wie er heute üblich ist, sondern bunt bedruckt, wie ihn die Frauen früher trugen. Sie wirft ihn zum Beispiel über ein Abendkleid, wenn sie zu einer Hochzeit oder zu einem Essen bei Freunden geht. „Ich soll meine Sexualität verstecken, aber der Tschador bewirkt das Gegenteil: Das Versteckte gibt der Fantasie Raum.“ Vor 12 Jahren kehrte sie aus Paris und New York zurück. „Das Leben hier ist unglaublich intensiv, im Guten wie im Schlechten.“ Wobei sie, als Tochter reicher Eltern, eher die guten Seiten genießen kann. Sie wohnt in einer alten Villa im Norden, mit Garten, Pool und Dienstboten aus Bangladesch. Von der behüteten Warte ihrer Villa aus ist der Moloch für sie die perfekte Stadt. „Wir sind ein Volk, getrieben von der Hoffnung. Und ist nicht oft die Sehnsucht intensiver, als es die Erfüllung eines Wunsches je sein kann? Teheran macht mich kreativ.“

Bisweilen zu kreativ. Fasziniert von der im Iran alles dominierenden Dualität von Innen- und Außenwelt, entwarf sie eine Mantelkollektion, bei der sie das Innerste nach außen kehrte und den Stoff auf links drehte, sodass man die Nähte sah. Eine Mitarbeiterin der kanadischen Botschaft kaufte einen Mantel. Eines Tages näherte sich ihr auf der Straße ein Mann. „Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?“ Die Frau war irritiert. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber: Machen Sie sire?“ Jetzt war die Frau empört. Denn sire ist eine auf Zeit vereinbarte Ehe, wobei diese Zeit auch nur eine Stunde betragen kann, ist Prostitution auf Iranisch. „Wie kommen Sie darauf?“, fauchte sie ihn an. „Ihr Mantel, die Nähte nach außen. Wissen Sie nicht, dass dies das Zeichen ist?“

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Vor dem Basar ist es nicht schwer, ein Taxi zu finden. Gleich das erste Auto hält, am Steuer ein Mann mit weißem Bart und faltigem Gesicht. Die Rede kommt auf die USA und ob sie Iran angreifen werden. „Warum haben die Amerikaner 1979 nicht verhindert, dass Chomeini zurückkehrt? Sie sind selbst schuld, dass alles so gekommen ist“, sagt der Alte. Der Beifahrer, ein Mann um die fünfzig, widerspricht: „Es ist zu spät, zu lamentieren. Es ist, wie es ist.“ Er blickt aus dem Fenster. „Bush war in zwölf Tagen in Bagdad!“ Für einen Moment spricht niemand. Dann nimmt der Taxifahrer den Faden wieder auf. „Wenn die Amerikaner etwas gegen unsere Regierung haben, sollen sie das mit denen ausmachen. Aber wenn sie meine Frau töten oder mein Kind, sind sie mein Feind.“ Er tippt dem Beifahrer auf die Schulter: „Weißt du noch, wie wir 1979 geglaubt haben, wir könnten das Gesicht von Chomeini im Mond sehen?“ Der andere lacht auf. „Sechs Monate nach der Revolution habe ich gemerkt, was für einen Mist wir gebaut haben. Aber da war es schon zu spät.“

SUSANNE FISCHER unterrichtet derzeit irakische Journalisten in Suleimaniye, Nordirak