Die Zukunft des Sozialen

Michael Opielka hat ein theoretisch fundiertes und lehrreiches Buch zur Sozialpolitik verfasst. Man sollte es lesen, auch wenn man seine These vom Ende der Erwerbsarbeit nicht teilt

Sozialpolitik galt lange Zeit als langweilig. Wer versteht schon die verschlungenen Pfade der Sozialgesetzgebung? Journalisten fanden das Thema wenig sexy. Politiker betrachteten es als eine Sackgasse ohne Karriereaussichten. Politik und Medien unterstützten in den letzten Jahren kaum mehr die Anliegen von Sozialpolitikern. In Polit-Talkshows hieß das: Je geringer die Kenntnisse, desto heftiger die Kritik. Sozialexperten waren eben einfach Betonköpfe, verantwortlich für den Reformstau der letzten Jahrzehnte.

Bei den BürgerInnen genoss Sozialpolitik dagegen hohe Reputation, regelt sie doch den Umgang mit den Grundrisiken menschlicher Existenz: Gesundheit, Alter, Arbeitslosigkeit. Diesem Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Gesellschaft widmet der Soziologe Michael Opielka sein Buch „Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven“. Er ist als engagierter Vertreter eines Grundeinkommens bekannt geworden. Sein Ziel ist die Abkopplung der Existenzsicherung vom Arbeitsmarkt, die Dekommodifizierung.

Zwei gegensätzliche Entwicklungen machen dies, so Opielka, notwendig: Zum einen sinkt das Arbeitsvolumen wegen der weitersteigenden Produktivität – zugleich steigt aber die Nachfrage nach bezahlter Arbeit. Das hängt vor allem mit der kontinuierlich zunehmenden Erwerbsneigung von Frauen zusammen. Vollbeschäftigung sei unter diesen Bedingungen nicht mehr zu erwarten.

Das politische Gemeinwesen steht also vor einer Richtungsentscheidung: Entweder der Staat lässt Arbeit und Einkommen weiterhin durch den Arbeitsmarkt regeln – und schließt somit Bürger aus, deren unzureichende Einkommen Sozialhilfe-ähnlich aufgestockt werden. Oder „die Verteilungsregel wird grundsätzlich modernisiert und faktisch politisiert. Das wäre die Idee des Grundeinkommens.“

Opielka geht von der Wohlfahrsstaat-Typologie des schwedischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen aus. Dessen Verdienst lag in seiner Systematik. Er beschränkte sich nicht auf den häufig zweifelhaften Vergleich der Leistungsniveaus einzelner Systeme. Vielmehr stellte er die nationalen Lösungen in einen historischen und institutionellen Kontext.

Dabei orientierte er sich an drei Kriterien: der Abkoppelung der Existenzsicherung vom Arbeitsmarkt, der Wirkung des Wohlfahrtsstaates auf die Einkommens- und Vermögensverteilung und dem Verhältnis von Markt und Staat im jeweiligen System. Die USA etwa galten wegen der geringen Umverteilungswirkung und der starken Orientierung auf den Markt als liberal. Schweden als ein sozialdemokratisches Modell. Der Markt spielte dort kaum eine Rolle, und die Umverteilungswirkung war hoch.

Und Deutschland? Esping-Andersen kann mit unserem konservativen Sozialstaat nicht viel anfangen, da er als Arbeitnehmerversicherung konzipiert ist und kaum Umverteilungswirkung hat. Sein Vorbild sind die universalistischen Bürgerversicherungen, wie etwa in Schweden. Eine zentrale Rolle spielt, so Esping-Andersen, der berufliche Status des Versicherten. Die Unterschiede des Erwerbsleben sollen sich unter dem Stichwort Leistungsgerechtigkeit in den Sozialleistungen wiederfinden.

Diese Typologie ergänzt Opielka um ein „garantistisches“ Modell. Man kann es auch als Teilhabegerechtigkeit übersetzen. Die Anspruchsgrundlage ist der Bürgerstatus. Es gilt den Ausschluss von Bürgern aus allen gesellschaftlichen und sozialen Bezügen zu verhindern.

Diesen Ansatz dekliniert Opielka durch alle relevanten sozialpolitischen Themenfelder. Dabei beschränkt er sich nicht auf die klassischen Felder der Sozialversicherung wie Rente oder Gesundheit. Er setzt Schwerpunkte in der Familien- und Bildungspolitik. Darin drückt sich die überfällige Akzentverlagerung in der deutschen Debatte aus. Man betrachtete den Sozialstaat zu lange primär als Sozialversicherungsstaat. Diese will Opielka in seiner Variante der Bürgerversicherung bündeln und als „Grundeinkommensversicherung“ ausgestalten.

Dabei verfolgt er seinen theoretischen Ansatz der Dekommodifizierung konsequent – so in seiner Kritik an der „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Agenda 2010. Er betrachtet Hartz IV nicht als ein Instrument zur Integration von Arbeitslosen, sondern als Instrument der Ausgrenzung. Allerdings befindet sich sein Ansatz in allen europäischen Modellen auf dem Rückzug – vom sozialdemokratischen Schweden bis zum liberalen Großbritannien.

In Deutschland geschieht das aus durchaus guten Gründen. Esping-Andersen war schon im Jahr 1990 über die deutsche Form der Dekommodifizierung irritiert. Man versuchte die Arbeitsmarktprobleme durch sozialverträgliche Formen der Exklusion zu lösen. Stichwort Vorruhestand. Diese Politik war nicht nur bald an ihre finanziellen Grenzen gestoßen. Die Kürzungsagenda 2010 ist ohne diesen Tatbestand nicht zu erklären. Das kann man für falsch halten, aber nicht in der Weise ignorieren, wie es Opielka letztlich praktiziert. Diese Haltung dokumentiert die Grenzen seines Ansatzes, der vom Ende der Erwerbsarbeit ausgeht. Rekommodifizierung passt da nicht ins Konzept.

Gleichwohl ist Opielka ein kenntnisreicher und engagierter Autor. Seine Sozialpolitik ist ein Lehrbuch im guten Sinne des Wortes: theoretisch fundiert, mit hohem Informationswert und auch als Nachschlagewerk zu einzelnen sozialen Themen geeignet. Diese Empfehlung gilt übrigens nicht nur für Sozialpolitiker. FRANK LÜBBERDING

Michael Opielka: „Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven“. Rowohlts Enzyklopädie, Hamburg 2005, 12,90 Euro